In seiner vielzitierten Nobelpreisrede von 1987 fordert der russisch-amerikanische Lyriker Joseph Brodsky, dass Gedichte an jeder Tankstelle und Klassiker in billigen Ausgaben erhältlich sein sollten. Sie seien der gedankliche Treibstoff für den Tag, ein „kolossaler Beschleuniger des Bewusstseins, des Denkens, der Wahrnehmung der Welt“. Als Autor und Übersetzer von Lyrik und als Literaturvermittler habe ich immer wieder an Brodskys Idee angeknüpft und nach neuen Wegen gesucht, Poesie in die Stadt und in den Alltag zu bringen. Die Münchner Poesieautomaten mit ihren drei besonderen Standorten und pfiffigen Distributions-Maschinen sollen Lust auf das Lesen und das Entdecken von Gedichten machen. Man kann die Texte der Autor*innen in dieser Form nur hier vor Ort erhalten. Es ist ein spielerischer Versuch, Menschen mit Gedichten zu bewegen – auch ganz konkret in Form eines poetischen Parcours durch München.
Poesieautomaten gibt es natürlich schon viel länger und in unterschiedlichsten Formen, zum Beispiel als spielerisch-aleatorische Erzeugungssysteme. Bereits im Barock fesselte die Idee, man könnte Texte automatisch herstellen beziehungsweise herstellen lassen, verschiedenste Dichter*innen. So wurde im Jahr 1777 aus der Universitätsstadt Göttingen die Erfindung einer „Poetischen Handmühle“ vermeldet, die die mechanische Anfertigung von Oden ermöglichte.
Auch der zeitgenössische deutsche Dichter Hans Magnus Enzensberger griff die Idee der automatischen Poesiegenerierung auf. Sein „Landsberger Poesieautomat“ ist eine flughafenkompatible Fallblattanzeigetafel mit sechs Zeilen, auf der per Zufallsprinzip – und per Knopfdruck – verschiedene vorgegebene Satzglieder miteinander kombiniert werden können. Enzensberger selbst kommentierte die Produkte seines Poesieautomaten mit folgenden Worten: „Es ist ein Spiel. Wie weit man es mit Sinn auflädt, hängt vom Betrachter ab.“
Mich hat es immer fasziniert, wie poetische Texte ganz wörtlich genommen neue Räume eröffnen, nicht nur in ihrer Kombinatorik, sondern eben ganz konkret als überraschende Begegnung mit Leser*innen. Das Gedicht ist für mich ein imaginärer, aber betretbarer Raum, in dem sich eine ganz eigenständige Gefühls- und Gedankenarchitektur entwickelt.
Jedes Kind kennt das Staunen vor Automaten – an Bahnhöfen, Haltestellen, Ecken, Straßen. Dieses Staunen trägt etwas von dem „Geheimniszustand“ in sich, den die dänische Lyrikerin Inger Christensen in Anlehnung an den Dichter Novalis als Essenz eines Gedichts benannte. Hinter dem Glas, dem Metall, der Aufschrift und in der Mechanik der Automaten verborgen wartet vielleicht das entscheidende Tagesorakel.
Hier in München werden es mehrere Automaten, an verschiedenen Standorten sein, aus denen normalerweise Spielereien für Kinder, erfrischende Bonbons oder Kondome gezogen werden, die zu lyrischen Raumin(ter)ventionen umfunktioniert wurden und nun Poesie ausgeben.
Die Bewohner- und Besucher*innen von München sind eingeladen, Gedichte aus den unterschiedlichen Apparaten zu ziehen, sich anregen, verführen, berühren zu lassen.
Der erste Münchner Poesieautomat, der „Gefühlsechte Gedichte“ von deutschen und internationalen Lyrikern enthält, eröffnet in der Villa Stuck. Der Automat ist mit 14 unterschiedlichen Gedichten bestückt, welche für je 50 Cent gezogen werden können. Man kann die Texte lesen, aufbewahren, verschenken. Die Einnahmen werden an wohltätige Organisationen gespendet, die sich für Autor*innen im Exil einsetzen.
Gedichte sind Truhen für die Schätze der Welt. Sie leuchten unmittelbar ein, heben sogar noch das Scheitern und die Trauer auf und zaubern vor dem Auge der Leser*innen eine neue Welt herauf ‒ mit nichts als Sprache. Wenn Gedichte gelingen, sind sie ein Wunder – und vielleicht werden unseres Münchner Poesieautomaten kleine Wunderkammern sein für manch neue*n Lyrikleser*in.