Die demokratische Schnecke. Ein großes Märchen -

Foto: Wolfgang Pulfer, bearbeitet von Anna Lena von Helldorf und Heike Geißler

Guten Tag!

Wir haben also versucht zuerst: die Schließung des Museums zu ignorieren und einfach beharrlich weiterzumachen, dann: die Ausstellung zu verschieben und schließlich: uns der Herausforderung #closedbutopen zu stellen, haben deshalb in Windeseile ein neues Konzept entwickelt, das mit dem alten nicht mehr alles teilt.

Auf www.diedemokratischeschnecke.de wird ab dem 26. März 2020, 20.15 Uhr Die demokratische Schnecke. Ein großes Märchen. zu sehen, und vor allem: zu lesen und zu hören sein. Das Onlineszenario, das eine Umformulierung jener Landschaft ist, die wir als Arbeitsraum für das Alte Atelier im Sinn hatten, wird aus einem digitalen Zettelkasten gespeist, in dem sich alle Materialien befinden, aus denen sich die Erzählung der Schnecke ergibt, aus denen das große Märchen verfasst. Das Szenario ist ein work in progress. Auch nach der Eröffnung (oder wie wollen wir den Moment am Donnerstag nennen, wenn wir, nicht beieinander, sondern in München und in Leipzig sitzend uns via Skype verbinden und zur Feier des Tages, der Schnecke, des Moments anstoßen) wird die Website sich immer wieder in neuen Verfassungen zeigen. Wir setzen auf den Zauber des Ortswechsels, plädieren für die spielerische Neugruppierung, und zeigen immerzu einen Text, der sich mal als Individualist, mal als Chor aus Zurufen aus der Mitte eines prall gefüllten oder plötzlich geleerten Territoriums zum Lesen und Hören präsentiert. Was Sie sehen können, ist uns ein Territorium der Verbundenheit, ein Unterfangen, das dazu einlädt, immer wieder gern den Überblick zu verlieren, Begrüßungen, Anfänge und Absagen zu feiern und hoffentlich die Aussicht(en) zu genießen.

Heike Geißler und Anna Lena von Helldorff

In einem ursprünglich als Arbeitsraum für das Alte Atelier Franz von Stucks konzipierten Szenario, welches aufgrund der Schließung des Museums seit 14. März nun eine temporäre Präsenz im Internet findet, zeigen Heike Geißler und Anna Lena von Helldorff eine Landschaft, die zugleich Modell und Abbild verdichteter Wirklichkeiten und eine große Fiktion ist. Die Landschaft wird als Showroom der Möglichkeiten, Ängste und Hoffnungen inszeniert und eröffnet verschiedene Perspektiven auf deren Beschaffenheiten und Konstellationen.

Nicht nur im übertragenen Sinn sollte eine Landschaft inszeniert, vielmehr sollte sie auch bildlich mit dem Trägermaterial Papier nachgeformt werden, auf den Tisch gelegt, gestellt, gestapelt.
Ist das hier zu Sehende ein Modell? Eine Vergrößerung? eine Verkleinerung? Ist es im Aufbau oder Abbau begriffen? Findet eine Fortsetzung statt? Wird es noch weiter gehen? Wie geht es weiter?
Nun wird sie in Zusammenarbeit mit dem Gestalter Toni Schönbuchner in einen digitalen Zustand versetzt. Dabei versteht sich das Szenario als Lesestoff und Erlebnisparcours und nicht zuletzt als Einladung, an einem »Manifest für Gefährten« (Donna Haraway) mitzuwirken.

Die Sprache ist das künstlerische Material dieser Ausstellung. Die demokratische Schnecke ist eine ausführliche, formenreiche Erzählung über Rede- und Betrachtungsweisen der Gegenwart, welche die Betrachter*innen mitunter direkt ansprechen. Die dargebotene Landschaft verweist auf die Veränderbarkeit unserer ruinösen Strukturen in Lücken, Utopien und Alternativen hinein.
Die Schnecke tritt auf als Kundschafterin unseres Status quo und als Repräsentantin eines souveränen Hauses im Staat, der immer im Werden begriffen ist. Sie ist zugleich Figur und Berichterstatterin der Geschehnisse, ist die unwahrscheinlichste und vertrauenswürdigste Korrespondentin. Und natürlich gilt für ihre Berichte, Ausführungen und Anekdoten: »Wenn man das so erzählt, ich weiß schon, will das einem keiner glauben, aber es war so, genau so.« (Michael Köhlmeier)

Hier sind alle Geschichten wahr. Und sofort ist das Gegenteil der Fall. Die Lücken zwischen Ja und Nein, zwischen Positiv und Negativ, zwischen Exposition und Rückzug sind keine Brachen und eignen sich ebenso wenig für Spekulationsobjekte. Die Lücken sind hier der zelebrierte Raum der Möglichkeiten, der Umdeutung, der Verkehrung, der Freude am Spiel, der Show und auch der Liebe. Nicht grundlos heißt es in einem zum Szenario gehörenden Audioguide: »Sie befinden sich jetzt mitten in einer Liebesgeschichte.« Hier geht niemand verloren; was als Tour beginnt, mündet in ein Lob des Verstricktseins. Wenn es heißt: »Oh ja, es waren wirklich einmal sehr beherzte Schritte. Hat jemand von beherzten Schritten gehört? Die Zeit der beherzten Schritte ist vorbei. Die Kulturtechnik des beherzten Setzens eines Fußes vor den anderen ist ausgestorben«, kann darauf nicht mit Verzagtheit reagiert werden. Hier geht es immer weiter, weil es weitergehen muss, weil auf die Frage: »Wann sind wir endlich da?«, die ehrliche Antwort lautet: »Wir sind voraussichtlich nie da, und das wollen wir alle wissen lassen.«

Zur Ankündigung und Begleitung der Ausstellung wird im Münchner Stadtraum sowie im Umland plakatiert (vgl. die letzte Seite dieser Pressemitteilung). Diese Plakate in den Formaten Din A0 und Din A1 mit insgesamt fünf verschiedenen – rein textlichen/typographischen – Motiven, beginnen ein Gespräch, das auf diedemokratischeschnecke.de fortgesetzt wird und zum kontinuierlichen Neuanknüpfen anregt. Und wenn es bei Judith Butler heißt, dass wir dazu neigen, »die furchtlose Rede mit dem Individuum zu assoziieren, aber könnte man diese Form der Rede nicht auch als kollektive Äußerung verstehen?«, lautet die Antwort hier: Ja, natürlich: »Schön, dass Sie da sind. Schön, dass wir einander begleiten. Bitte warten Sie k/einen Augenblick!

Biographien

Anna Lena von Helldorff und Heike Geißler arbeiten seit 2010 in unterschiedlichen Konstellationen zusammen. 2010 begannen sie, die Heftreihe »Lücken kann man lesen« herauszugeben. Gemeinsam mit der Künstlerin Anke Dyes veröffentlichten sie 2016 das Fragenheft Fragen für alle (www.fragenfueralle.de) und entwickelten 2017 mit dem Künstler Thomas Lindenberg das Geld mani bucate money fest. Weitere gemeinsame Interventionen waren Kein Auftrag ist auch ein Auftrag — GfZK Leipzig, Dear Reader — Ein Blatt zum Thema »Borders“, AGI Kongress Mexico City, Wahlplakate für Wahlkampf, ein Schaufenstertheaterstück Leipzig u.a.). Die demokratische Schnecke. Ein großes Märchen ist ihre erste gemeinsame Ausstellung.

Heike Geißler (*1977 in Riesa, aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt) ist Schriftstellerin und lebt in Leipzig. Sie war Stipendiatin der Villa Massimo, Rom. Zuletzt veröffentlichte sie den Reportage-Essay-Roman »Saisonarbeit«, unterrichtete als Gastprofessorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und schrieb Beiträge für diverse Publikationen (Edit, Süddeutsche Zeitung, Artforum, The Believer, The Guardian, Frieze).

Anna Lena von Helldorff (*1977 in München, 2019 wiedergekehrt) lebte von 1998–2019 in Leipzig und arbeitet als selbstständige Gestalterin in verschiedenen Formaten und Formen der Zusammenarbeit. Sie studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, unterrichtete als Gastprofessorin an der Hochschule für Künste Bremen und gründete 2014 den KV – Verein für Zeitgenössische Kunst Leipzig im Kollektiv mit Künstler*innen, Kurator*innen und Kunsthistoriker*innen. Seit 2015 ist sie Mitglied der AGI (Alliance Graphique Internationale).

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