Karl Wilhelm Diefenbach»Lieber sterben, als meine Ideale verleugnen!« -

Karl Wilhelm Diefenbach, Weiße Grotte, 1913, Öl auf Leinwand, 90,0 x 230,0 cm, Inv. Nr. G 245, Kulturhistorisches Museum Magdeburg

Das Museum Villa Stuck zeigt die erste umfassende Ausstellung über den Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). Barfuß und in Kutte gekleidet, machte er Ende des 19. Jahrhunderts als exzentrische Künstlerpersönlichkeit nicht nur in der bayerischen Hauptstadt von sich reden.

Vor dem Münchner Hofbräuhaus wetterte er »gegen den Verzehr von Tierfetzen« und sah im »Tiermord« die Ursache für den »menschenmordenden Krieg«. Er besuchte an der Seite der späteren Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner den Friedenskongress 1898 und propagierte Licht- und Luft-Bäder des nackten Körpers. Deren praktische Umsetzung führte dazu, dass er sich wegen »groben Unfugs« im Rahmen des ersten »Nudistenprozesses« in der deutschen Geschichte verteidigen musste.

Diefenbachs Suche nach neuen Wegen führte ihn aus dem Schwabinger »Wahnmoching« ins abgeschiedene Isartal, von dort über Wien, Kairo und Triest schließlich auf die von Bohemiens und Künstlern besuchte und besiedelte Mittelmeerinsel Capri, wo er 1913 starb und in Vergessenheit geriet. Sein Leben war dabei geprägt von einem immerwährenden Scheitern, das ihn von Ort zu Ort trieb, wobei er seine künstlerische Identität, die sich schon früh ausbildete, nie verleugnete oder aufgab.

Die Ausstellung im Museum Villa Stuck zeigt Gemälde Diefenbachs sowie Arbeiten auf Papier, dazu Werke seiner Schüler Hugo Höppener, gen. Fidus, Gusto Gräser und František Kupka sowie zahlreiche Fotografien und Dokumente. Im Mittelpunkt steht Diefenbachs monumentaler Fries »Per aspera ad astra« (lat. »Auf rauer Bahn zu den Sternen«) aus dem Jahr 1892, den er gemeinsam mit Fidus malte. Auf einer Gesamtlänge von 68 Metern zeigt Diefenbach, ähnlich einem Scherenschnitt, sein persönliches Glaubensbekenntnis, das in Szenen nackter, kindlicher Fröhlichkeit an dem Betrachter vorüberzieht.

Diefenbachs Weltanschauung bewegte sich zwischen den ideologischen Geboten der prüden Gründer-zeit und dem lebensreformerischen Kampf des freien Individuums. Dies macht ihn zu einer Inkarnation des revolutionären Aufbruchs um 1900 – immer noch im Zwiespalt mit der gesellschaftlichen Norm, noch nicht so konsequent wie die nachfolgende Generation, für welche er aber Pionier und Vorkämpfer war. Diefenbach kann als »Kulturschöpfer« gelten, dessen »Anschauungen«, so sein Jünger Fidus, »Grundsinn der modernen Kultur geworden sind«: Sein Leben war ein Kampf für die Umsetzung seiner Ideale mit dem Ziel eines irdischen Paradieses. Diese Utopie stand einerseits in direktem Gegensatz zu seinen persönlichen Lebensumständen und andererseits in Kontrast zu Industrialisierung und entstehenden Großstädten, Massenbevölkerung, Armut und Luftverschmutzung, militärischer Aufrüstung und Krieg, das heißt zu Not und Elend bei einem Großteil der Bevölkerung.

Es waren Diefenbachs Schüler, die weitere Konsequenzen zogen: František Kupka, auf der Suche nach Ursprünglichkeit und Reinheit, fand seinen künstlerischen Weg in die Abstraktion. Hugo Höppener, gen. Fidus, orientierte sich in Richtung einer deutsch-völkischen Illustrationskunst, hoffte jedoch vergeblich auf Aufträge aus dem nationalsozialistischen Berlin. Diefenbachs »Bruder im Geiste«, Gusto Gräser, verfolgte eine ganz und gar unpolitische Erneuerung auf der Basis einer naturgemäßen Lebensweise und schuf mit der Siedlung auf dem Monte Verità ein prominentes Experimentierfeld für verschiedenste Formen der Gegenbewegungen fern der »Zuvielisation«.

Gerade weil die Person Diefenbach die Aspekte des Kuriosen und Überzogenen in sich trägt, rückt die Ausstellung vor allem das künstlerische Werk des sogenannten »Kohlrabi-Apostels« ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In Verbindung mit seinen kulturrebellischen Überzeugungen entsteht nicht nur das Bild Diefenbachs als Kind seiner Zeit, sondern gleichzeitig als Visionär der Zukunft.

Zur Ausstellung

Der Kulturrebell Karl Wilhelm Diefenbach erhielt seinen Impuls aus der Krise seiner Zeit. Als er 1872 nach München kam, war das wilhelminische Reich begründet und der deutsch-französische Krieg gerade beendet. Ohne einen Blick auf die Zeichen der Zeit und ihre Dokumente eines »irdischen Jammertals« ist der lebenslange Kampf Diefenbachs nicht zu verstehen. Seine »Waffen« wie Nacktheit, Natürlichkeit, Körperlichkeit und Freiheit wandten sich direkt gegen die autoritäre, prüde und materialistisch-mechanistische Welt des Kaiserreichs und so führt die Ausstellung durch all jene Themenbereiche, die es laut Diefenbach zu revolutionieren galt.

Die teils großformatigen Gemälde des Künstlers sind zumeist monumentale Allegorien seiner Reformideen. Was er predigte und lebte, malte er auch. Einzigartiger Höhepunkt und Auftakt der Ausstellung ist das gemalte Manifest seiner Ideale von befreiender Nacktkultur und kindlicher Natürlichkeit , Vegetarismus und Pazifismus: Der monumentale Fries »Per aspera ad astra« (1892) zeigt auf 34 Leinwänden mit einer Gesamtlänge von 68 Metern das persönliche Glaubensbekenntnis des Künstlers, das in Szenen nackter, kindlicher Fröhlichkeit an dem Betrachter vorüberzieht. Bereits in diesem Frühwerk verarbeitete Diefenbach all die Themen, die er in späteren Phasen variieren und vertiefen wird.

Diese werden anschließend in verschiedenen Werken beleuchtet. Mit »Du sollst nicht töten« (1895) beispielsweise schuf Diefenbach ein Plädoyer für gelebten Vegetarismus, für den Verzehr von naturbelassenen Lebensmitteln und gegen Genussmittel wie Alkohol und Tabak. Die Debatte um die Würde jedes Lebewesens, um Tierschutz und Vegetarismus ging nicht zuletzt von ihm aus und zielte schließlich auf einen generellen Pazifismus und einen Zustand konfliktfreier Koexistenz, nicht nur von Mensch und Tier − Vegetarismus wurde quasi zum Mittel gegen den Krieg stilisiert.

Auch die aufkommende Kleidungsreform und die Nacktkultur brachten Ende des 19. Jahrhunderts ein grundlegendes Anliegen der Lebensreform zum Ausdruck: die Befreiung des menschlichen Körpers von den Zwängen enger und überflüssiger Kleidung, von Schamgefühl und sexuellen Traumata. Die Vereinigung mit etwas Elementarem, dem Licht, der Sonne, der Luft , wurde Motiv in der bildenden Kunst. Diefenbachs Jünger Fidus schuf mit dem »Lichtgebet« (1894) das Hauptwerk der frühen Nudismus-Bewegung. Jener hing dem »Meister« Diefenbach ebenso an wie der »freien Liebe« und dem Kampf gegen das »Zwangsinstitut« Ehe mit dem Ziel sittlich höhere Formen der geschlechtlichen Gemeinschaft zu etablieren.

Hinsichtlich der philosophisch-spirituellen Haltung galt es, sich vor allem vom Christentum zu emanzipieren. Diefenbachs Suche nach einer Religion dogmenloser »Menschlichkeit«, nach mystischen Mächten in der durchgöttlichten Natur, führte ihn zu exotischen Philosophien und in einen gesteigerten Subjektivismus, der in Nietzsches Ideal vom Übermenschentum kulminierte. Visionäre Szenen zeigen ihn in Anwesenheit des christlichen Erlösers oder sogar als Erlöser selbst. Sein gegürtetes »Christusgewand« war demnach auch äußeres Zeichen seiner Selbsteinschätzung als neuer »Prophet« (um 1892). Seine geplanten Tempelbauten eines neuen Kultus finden in Bildwerken mit utopischem Charakter ihren Ausdruck.

Sein Motivspektrum mündete auf Capri in großformatigen symbolistischen Landschaften, welche die Eindrücke der Insel ebenso wie die Landschaften seines Seelenlebens spiegeln. Beispiele dieser Phase leiten am Ende der Ausstellung über zu den Werken dreier Schüler Diefenbachs, František Kupka, Fidus und Gusto Gräser.

Was in Diefenbachs Spätwerken zu erahnen ist, wurde bei seinem Schüler František Kupka manifester Stil: die Aufwertung des Geistes gegenüber Materialismus und Verwissenschaftlichung, die künstlerische Avantgarde, die Abstraktion. Dagegen bediente der Diefenbach-Jünger Fidus indirekt und esoterisch überlagert die nationalsozialistische Propaganda für den »neuen Menschen«. Erst in Ascona auf dem Monte Verità wurde Gusto Gräser, einer der konsequentesten Propheten aus Diefenbachs Geiste, zum Prediger eines ökologischen Utopia.

Neben Diefenbach gewähren diese drei Künstler der nächsten Generation einen Einblick in die Entwicklung einer facettenreichen Kulturreform, die Diefenbach vor Augen hatte.

Karl Wilhelm Diefenbach – Biographie

1851 21. Februar, Karl Wilhelm Diefenbach wird in Hadamar bei Limburg an der Lahn geboren

1872 Umzug nach München. Anstellung beim Hoffotografen Albert sowie Tätigkeit für die fotografische Anstalt Hanfstaengl

1872–79 Studium an der Akademie der bildenden Künste, München

1873 Typhusinfektion mit folgenschwerer Behandlung. Abkehr von Tabak, Alkohol und Fleischkonsum

1880 3. Dezember, Geburt des Sohnes Kurt-Helios

um 1881 Austritt aus der Kirche, Mitglied der freireligiösen Gemeinde. Erste Kontakte zu Eduard Baltzer, dem Begründer des Vegetarischen Vereins in Deutschland. Briefwechsel mit dem Naturheilpraktiker Arnold Rikli, dem Vorkämpfer des Naturismus und Begründer der Licht-Luft-Bäder

1882 27. Januar, Standesamtliche Trauung mit Magdalene Atzinger. Anschließend visionäre Erfahrung auf dem Hohenpeißenberg. Selbst-Berufung zum »Propheten«

ab 1882 Tragen der Reformkleidung

1882 1. September, Geburt der Tochter Stella
17. November, Porträt Richard Wagners im Auftrag des königlichen Hofsekretariats für die Weihnachtsgeschenke Ludwigs II.

1884 Zahlreiche öffentliche Vorträge »Über die Quellen des menschlichen Elends, Krankheit, Armut und Verbrechen und deren Beseitigung durch naturgemäße Lebensweise« in Veranstaltungssälen in München
Dezember, Mitglied des Weltsprache-Vereins »Volapükaklub«. Erste Geldbußen und Verurteilungen wegen »groben Unfugs«. Zunehmende Anfeindungen von Gesellschaft und Rechtssprechung

1885 Gründung der Lebensgemeinschaft »Humanitas« im Steinbruch Höllriegelskreuth. Der Wanderprediger Johannes Guttzeit wird sein Jünger
 8. Oktober, Geburt des Sohnes Lucidus

1887 Hugo Höppener wird Diefenbachs Jünger, genannt Fidus. Gemeinsame Arbeit an dem grafischen Zyklus »Kindermusik«

1888 Nach nacktem Sonnenbad der Kinder Verurteilung durch das Landgericht München II wegen »öffentlichen Unfugs« im ersten Nudistenprozess der Geschichte Deutschlands. Kontakte zu Wilhelm Hübbe-Schleiden und damit zur theosophischen Lehre

1889 Ausstellung in der Kunstgewerbehalle, Theatinerstraße, München. Zerwürfnis mit Fidus über die Verwendung des Erlöses

1890 Kündigung des Steinbruchhauses, Umzug nach Dorfen. Tod der Ehefrau, die drei Kinder kommen in die Obhut des Vaters

1891 Ausstellung in der Löwengrube, München

1892 Umzug nach Wien. Ausstellung im Österreichischen Kunstverein. Entstehung der Monumentalfassung von »Per aspera ad astra«. Wirtschaftlicher Ruin Diefenbachs nach Betrug durch den Wiener Kunstverein. Ausstellung von »Per aspera ad astra« im Kursaal Baden

1893 Bekanntschaft mit der Friedenskämpferin Bertha von Suttner

1894/95 Kontakt zu František Kupka und Arthur Roessler

1895 Einzelausstellung des Gemäldes »Erlösung« (nach 1895). Alpenwanderung und Aufenthalt am Gardasee

1896/97 Reise nach Alexandria und Aufenthalt in Kairo, Ägypten. Pläne monumentaler Tempel-Bauten

1897 Rückkehr nach Wien und Gründung der Landkommune »Himmelhof« in Ober-St.-Veit. Gusto Gräser, der spätere Begründer des Monte Verità, wird sein Jünger, ebenso Magnus Schwantje, Begründer der Tierschutzbewegung. Ausstellung von »Per aspera ad astra« in Wien

1899 Konkurs und Auflösung der Himmelhof-Gemeinschaft. Umzug nach Triest, Ausstellung in der »Alten Börse« und Ankauf von Werken durch den Österreichischen Lloyd

1900 Geplante Orientreise. Diefenbach lässt sich auf Capri nieder. Teilnahme an der »Hygiene-Ausstellung« in Neapel

1902 Standesamtliche Trauung mit Wilhelmine Vogler. Künstlerischer Fokus auf symbolistischen Landschaftsgemälden

1906 Kur im Sanatorium »Weisser Hirsch« des Naturheilkundlers Heinrich Lahmann in Dresden

ab 1907 Ständige Ausstellung im Casa Grande, Capri. Entwürfe eines »Humanitas«-Tempels in der Festung Baja im Golf von Neapel und am Golf von Sorrent

1913 15. Dezember, Diefenbach stirbt auf Capri

Installationsansichten

Foto: Katrin Schilling

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