Less Work for MotherRICOCHET #12. Christian Hartard -

Christian Hartard, Study for a Head, 2018, Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Study for a Head, 2018, Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser

Die Ausstellung wird gefördert durch die Alexander-Tutsek-Stiftung, die Erwin-und-Gisela-von Steiner-Stiftung und die Prinzregent-Luitpold-Stiftung.

Im Rahmen der Reihe RICOCHET zeigt das Museum Villa Stuck mit der Ausstellung »Less Work for Mother« die erste museale Einzelpräsentation des Münchner Künstlers Christian Hartard (geb. 1977). Für die Räume im zweiten Obergeschoss der historischen Villa Stuck entwickelt er ein komplexes Ensemble aus Objekten, Grafik, Video und ortsspezifischen Installationen, die um Motive von Abwesenheit und Präsenz, Zeigen und Verbergen kreisen.

Christian Hartard, Less Work for Mother, 2018, bearbeitete Fotografie der Tötungsanstalt Schloss Hartheim, Alkoven bei Linz, aufgenommen von Karl Schuhmann, 1940/4, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Less Work for Mother, 2018, bearbeitete Fotografie der Tötungsanstalt Schloss Hartheim, Alkoven bei Linz, aufgenommen von Karl Schuhmann, 1940/4, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Doors (from Memory)/ Parallels (Milk), 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Doors (from Memory)/ Parallels (Milk), 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Phantom/ All the Wrong Lessons, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Phantom/ All the Wrong Lessons, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, All the Wrong Lessons, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, All the Wrong Lessons, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Study for a Head/ Monument/ Traveller, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Study for a Head/ Monument/ Traveller, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Traveller, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Traveller, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Study for a Head, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Study for a Head, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Prothesis, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Prothesis, 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Prothesis (Detail), 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser
Christian Hartard, Prothesis (Detail), 2018, Installationsansicht Museum Villa Stuck, München, Foto: Jann Averwerser

Im Rahmen der Reihe RICOCHET zeigt das Museum Villa Stuck mit der Ausstellung »Less Work for Mother« die erste museale Einzelpräsentation des Münchner Künstlers Christian Hartard (geb. 1977). Für die Räume im zweiten Obergeschoss der historischen Villa Stuck entwickelt er ein komplexes Ensemble aus Objekten, Grafik, Video und ortsspezifischen Installationen, die um Motive von Abwesenheit und Präsenz, Zeigen und Verbergen kreisen.

Hartard nähert sich in zehn eigens für die Ausstellung entstandenen Werken elementaren Erfahrungen und Emotionen wie Angst, Ohnmacht, Verlust. Es entsteht eine Choreographie von Objekten, welche die Betrachter empfindsam auf Gegensätze wie hart/weich, durchlässig/fest oder kalt/warm reagieren lassen. Ihre sensorischen Eigenschaften, wie Geruch, Temperatur, Vibration oder Sound, lassen einen hinfühlen, hinriechen, hinhören, wenn hinsehen allein nicht reicht. Durch die Verwendung fragiler, schutzbedürftiger Stoffe, weicher und viskoser Materialien oder durch den Einsatz von Wärme, Kälte, Elektrizität und Fließvorgängen wird ihr Minimalismus gebrochen und sinnlich aufgeladen. Der Künstler interessiert sich für eine Kunst, die nicht Bilder, sondern Wirklichkeiten schafft. Der Betrachter ist daher mit konkreten Situationen konfrontiert, in denen die Werke als Gegenüber erfahrbar sind.

Ein stromführender Vorhang, zähflüssiges Industriewachs oder in Säure aufgelöstes Gold sind Energie- und Erinnerungsspeicher, die dem Nichtmehrvorhandenen einen Ort geben. Sie notieren, was verblasst und verschwunden ist. Auch das nervöse Zittern von Fensterglas, Bilder überkochender Milch, Dinge aus Porzellan und Textil sind Protokolle dessen, was einmal war oder gewesen sein könnte. Indem sie in den ehemaligen Dienstbotenräumen der Villa Stuck hauswirtschaftliche Tätigkeiten evozieren, legen sie mehrdeutige Spuren in die Vergangenheit.

Hartard erarbeitet sich ein Thema auf verschiedenen Ebenen, inhaltlich-archivarisch genauso wie formal-ästhetisch. Für die Ausstellung in der Villa Stuck führt ihn seine Recherche zu einem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, aber auch zu einem traurigen innerhalb seiner eigenen Familiengeschichte. Davon ausgehend entwirft Hartard eine Serie von »Wiederbelebungsmaßnahmen«, in denen sich konzeptueller Zugriff und ästhetische Poesie verschränken.

RICOCHET

In der Einzelausstellungsreihe RICOCHET (französisch für den Auf- bzw. Abprall, auch: Querschläger) präsentiert die Villa Stuck Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, die sich mit Diskursen unserer Zeit sowie aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Problematiken auseinandersetzen und diese durch ästhetische Transformation einer Neubetrachtung öffnen. Bisherige Künstlerinnen und Künstler im Rahmen der Reihe waren u. a. Hito Steyerl, Ahmet Öğüt, Amie Siegel, Hisako Inoue, Jan Paul Evers und Anna Barriball.

Zur Ausstellung

Ausgangspunkt der in der Villa Stuck gezeigten Werkserie waren Recherchen des Künstlers zur Biographie einer Großtante, die 1940 Opfer der NS-Euthanasie wurde. Barbara (Babette) Hartard, geboren 1895 in der damals bayerischen Rheinpfalz, war nach ihrer Schulentlassung bei der Familie des königlich bayerischen Regierungsrates Otto Luxenburger in Speyer als Dienstmädchen in Anstellung gekommen und ging mit dieser 1910 nach München. Der etwa gleichaltrige Sohn der Familie, Hans Luxenburger, wurde später durch seine psychiatrische Zwillingsforschung zur genetischen Bedingtheit der Schizophrenie bekannt und war in der Weimarer und der NS-Zeit einer der führenden Eugeniker; als Mitarbeiter am heutigen Max-Planck-Institut für Psychiatrie war er ein Befürworter eugenischer Sterilisationen und anderer ›rassehygienischer‹ Maßnahmen.

Barbara zog schon 1912 zurück in die Pfalz und kam erst im Sommer 1924, psychisch bereits schwer erkrankt, wieder nach München. Ihre letzte Wohnadresse war die Pension Daser in der Galeriestraße 35, heute Unsöldstraße 13. Ende September 1924 wurde Barbara als geisteskrank in die Psychiatrische Klinik München, die heutige Universitätsklinik für Psychiatrie in der Nußbaumstraße, eingewiesen und im Oktober in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing (Haar) verlegt. Sie blieb fast sechzehn Jahre dort Patientin. Ihre Krankenakte hat sich erhalten. Sie endet am 3. September 1940. An diesem Tag wurde Barbara zusammen mit 120 weiteren Frauen in die kurz zuvor eingerichtete Vernichtungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz gebracht und wenige Tage darauf dort getötet.

Die Auslöschung ›lebensunwerten Lebens‹ im ›Dritten Reich‹ war die Pervertierung eugenischer Ideen, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland diskutiert wurden und bis heute nichts von ihrer Brisanz eingebüßt haben. Für die Nationalsozialisten waren die Euthanasiemorde, für die erstmals Gaskammern eingesetzt wurden, zugleich Experimentierfeld und Blaupause für das industrialisierte Töten im Holocaust.

Die Werke der Ausstellung versuchen bewusst nicht, dieses komplexe geschichtliche Feld oder ein individuelles Schicksal zu dokumentieren oder zu illustrieren. Sie bemühen sich vielmehr, offene Formulierungen für Grunderfahrungen von Angst, Verlust oder Versehrung zu finden. Dennoch gibt es Referenzen zum historischen Geschehen, sichtbare und weniger sichtbare, die den Faden von dort zu den künstlerischen Setzungen weiterspinnen: Maße und Materialwahl; Motive von Körperlichkeit und latenter Gewalt, Schmerz und möglicher Heilung; die kühle Atmosphäre eines von Apparaturen aufrechterhaltenen, abhängig gemachten Lebens.

Der Titel »Less Work for Mother« erhält vor dem thematischen Hintergrund der Ausstellung eine durchaus zynische Note. Auch er bezieht sich aber wieder auf ein Stück Familiengeschichte. »Less Work for Mother« war seit den 1930er-Jahren der Slogan der Horn and Hardart Co. in Philadelphia und New York, der seinerzeit größten US-amerikanischen Gastronomiekette. Mitgründer der Gesellschaft war ein entfernter Cousin Barbara Hartards, der 1850 in der Pfalz geborene und als Kind in die USA ausgewanderte Frank A. Hardart (Franz Anton Hardardt). Er etablierte das Markenzeichen des Unternehmens, die »Horn and Hardart Automats«: kellnerlose Restaurants, in denen sich die Kunden aus gläsernen, von der Rückseite her befüllten und gegen Münzeinwurf sich öffnenden Fächern selbst bedienen konnten. Die Mitarbeiter, die zum Betrieb der Automaten natürlich nach wie vor benötigt wurden, verschwanden hinter der scheinbar selbsttätigen Maschinerie, die das Produkt ihrer Arbeit präsentierte und zugleich den Menschen als Subjekt der Arbeit unsichtbar machte.