Augen.Blicke: Perspektivwechsel, Nähe und die Schönheit des Details erleben wir bei keinem anderen Kunstwerk so intensiv wie bei der Skulptur. Dazu bedarf es nicht der Größe des Objekts, sondern der Auseinandersetzung, Empathie und »Ein-Fühlung« des Betrachters. Sie erfordert Hinwendung und Hinsehen.
In einer Epoche monumentaler Raum-Installationen steigt die Faszination für das maßstäblich Greifbare, das in seiner Ganzheit Fassbare. Kunstwerke, die eine ungewöhnliche Nähe zwischen Objekt und Betrachter*in erlauben, lassen sich eindringlicher erleben. Der Betrachter kann sich bisweilen über sie beugen, mehrere Ansichten und Perspektiven beinahe gleichzeitig wahrnehmen und dabei stets das Ganze – Idee und Ausdruck – im Blick behalten. Das visuelle Abtasten von Oberflächenstrukturen lässt uns Formen und ihre Wirkung sinnlich erfahren. Dem Sammler ist es vorbehalten, sie zu berühren, sie zu umfassen und den feinen Ziselierungen einer glatten oder rauen, runden oder scharfkantigen Oberfläche mit zarten Fingern nachzuspüren.
Stucks Figuren sind Archetypen, sie verkörpern existenzielle Grunderfahrungen und menschliche Verhaltensweisen von überzeitlicher Gültigkeit. Ihre Interpretation obliegt dem Betrachter, der erkennt: hier bin ich gemeint.
Das Museum ist ein sozialer Ort der Kommunikation.
Die Bildhauerei ist eines der spannendsten Kapitel in der künstlerischen Entwicklung Franz von Stucks. Seit dem Rom-Aufenthalt bei seinem Kollegen Max Klinger 1890 vermuteten Stucks frühe Zeitgenossen in der Form, die ihm laut eigener Aussage »über alles geht«, sein eigentliches Metier und seine größte Begabung. Der 27-Jährige ist endgültig »Plastiker«.
Die Entstehungszeit seiner Plastiken umfasst den Zeitraum von 1890 bis 1925. Auf Kraft und Dynamik der klassizistischen Frühwerke folgen selbstbewusst statische Frauenfiguren bis hin zum Entwurf für ein monumentales Beethoven-Denkmal. Die gewählte Präsentation der Sammlung unterstützt die raumgreifende Wirkung der Skulpturen und ihren Bedeutungsgehalt.
Stucks Werke stehen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Bronzetechnik, die im 19. Jahrhundert eine einzigartige Blüte erlebt und vollendet fein durchgearbeitete Kompositionen hervorbringt. Einer der namhaftesten Gießer, Cosmas Leyrer, fertigt sie in München. Die Statuetten werden in teils handverlesener, teils hoher Auflage für Ausstellungen in Europa und Amerika, Sammler und den freien Kunstmarkt produziert.
Ausstellungort sind die Historischen Räume des Künstlerhauses, die eine reiche skulpturale Ausstattung besitzen – vom Vestibül bis zum Künstleratelier mit dem Altar der Sünde, der als Weihestätte der Kunst stets End- und Höhepunkt eines Besuchs des Künstlers war. Der Weg des einstigen Gastes und heutigen Besuchers entspricht einem Spaziergang durch die Kultur- und Stilgeschichte der Antike von der Archaik über Assyrien und Pompeji bis in die byzantinische Zeit. Zahlreiche Antikenabgüsse in Form von lebensgroßen Skulpturen, Reliefs und Porträtköpfen stehen im Zentrum der Rauminszenierungen und Bildprogramme. Sie wurden von Stuck farbig gefasst, ihre Polychromie verleiht ihnen körperliche Realität.
In diesem Kontext werden erstmals Gegenüberstellungen wie die von Stucks Statuette der »Speerschleudernden Amazone« mit dem antiken »Kopf der Athena« möglich.
Der »Wächter des Paradieses« mutierte 26 Jahre nach seiner Entstehung anlässlich des 1. Weltkriegs bei Franz von Stuck zum schwertschwingenden Heroen im Kampf mit den feindlichen Mächten Europas. Die Sammlungspräsentation führt das Gemälde und die drei Skulpturen »Feinde ringsum« deshalb erstmals zusammen.
Anlass der außergewöhnlichen Präsentation ist die Neuerwerbung der seltenen Plastik »Phryne« (um 1925). Die antike Hetäre galt als ideale Verkörperung der Schönheit, ihr weibliches Selbstbewusstsein, das selbst Götter herausfordert, entspricht dem positiven Frauenbild Stucks.
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