Die Ausstellung «Bis ans Ende der Welt und über den Rand – mit Adolf Wölfli» zeigt Werke von Künstler*innen, die sich mit Themen rund um die menschliche Existenz beschäftigen: Weltenschöpfung und Erlösung, Vision und Utopie, Missbrauch und Versöhnung, Sinn und Wahnsinn. Den Ausgangspunkt bildet das Werk von Adolf Wölfli (1864-1930). Auf mehr als 25.000 Seiten verknüpft der Künstler und „Weltenschöpfer“ Zeichnung, Dichtung und Komposition zu einem inspirierenden Gesamtkunstwerk. Die Auswahl umfasst 70 Arbeiten von Adolf Wölfli aus der Sammlung der Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern und 70 Werke weiterer „Weltenschöpfer*innen“, u.a. Arbeiten von Hans (Jean) Arp, Joseph Beuys, William S. Burroughs, VALIE EXPORT, Anselm Kiefer und Constance Schwartzlin-Berberat. Alle zeichnen sich durch grenzüberschreitende künstlerische Haltungen aus.
„Bis ans Ende der Welt und über den Rand – mit Adolf Wölfli“ ist mehr als eine Ausstellung und versteht sich als umfangreiches Projekt, das Forschung und Experiment kombiniert. Es will inspirieren, verzaubern und verstören. Zugleich liegt dem Konzept eine gesellschaftspolitische Frage zugrunde: Jenseits vereinfachender und konstruierter Begriffe wie „Outsider-Art“ betont das Projekt die Spielräume und Möglichkeiten von Kunst. Heute noch werden Künstler*innen, die wie Adolf Wölfli in psychiatrischen Einrichtungen lebten bzw. leben, als „Outsider“ bezeichnet. Adolf Wölfli war Künstler und er sah sich als solcher. Kunst hat die Kraft, Gegensätze zu vereinen und Veränderungen in Gang zu setzen. Sie kann Grenzen überschreiten, ermöglicht Selbsterkenntnis und macht Kategorisierungen überflüssig. Der aktuellen politischen Diskussion zu Inklusion und Integration fehlt häufig die Grundlage: ein von Gleichheit geprägter Blick auf das Gegenüber.
„Bis ans Ende der Welt und über den Rand – mit Adolf Wölfli“ transportiert die Kraft der Kunst, Menschen zu berühren, eingefahrene Denkmuster zu überwinden und stellt Fragen zu Gleichheit, Freiheit und Gleichberechtigung. Es gibt keine „Outsider-Art“. Es gibt nur Kunst!
Alle in der Ausstellung vertretenen Künstler*innen überschreiten gesellschaftliche, politische oder persönliche Grenzen. Sie verbinden scheinbar Gegensätzliches und setzen damit die Kraft frei, eingefahrene Denkmuster zu überwinden. Die Erfahrung von Ausgrenzung, Benachteiligung, Unterdrückung, Krankheit und Kriminalität ist der Ausgangspunkt für produktive Grenzüberschreitungen, die sich einerseits in visionären, andererseits in ganz realen, auf das Leben in der Gesellschaft übertragbaren Formen manifestieren.
Adolf Wölfli überträgt in seinem künstlerischen Werk seine eigene Biografie, die eng mit der Erfahrung von Armut, Ausbeutung und dem Missbrauch anderer verknüpft ist, in eine imaginäre, glorreiche Weltenschöpfung - die „Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung“. Kunst und Leben sind im Werk Adolf Wölflis untrennbar miteinander verbunden. Es entsteht ein großangelegtes Geflecht aus Prosa, Poesie, Lautmalerei, Tabellen, Zahlen, Zeichnungen, Collagen und musikalischen Kompositionen.
Die Ausstellung vereint Werke aus allen Schaffensphasen von Adolf Wölfli, beginnend mit den ersten erhaltenen Zeichnungen von 1904 bis hin zu Zeichnungen und Collagen aus dem „Trauer-Marsch“ von 1928 bis 1930, Adolf Wölflis unvollendetem letzten Werk. Wölflis Nachlass, der sich in fünf Teilwerke gliedert, umfasst insgesamt 45 große, von ihm selbst gebundene Hefte sowie 16 Schulhefte mit einem Umfang von insgesamt über 25.000 Seiten. Darin eingebunden sind über 1.600 Zeichnungen und 1.600 Collagen, die heute als Einzelwerke präsentiert werden.
Zu den in der Ausstellung vertretenen Grenzgänger*innen zählt auch Joseph Beuys. Von ihm ist die Bewerbungsmappe zu sehen, mit der er sich 1961 an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf für eine Professur bewarb. Das Lehren an der Akademie war ein wichtiger Bestandteil seines „erweiterten Kunstbegriffs“ und bot eine Grundlage für die „Soziale Plastik“.
Eine Sektion der Ausstellung beschäftigt sich mit dem Frauenbild bei Adolf Wölfli. Bis heute ist die Gleichberechtigung von Frauen in der Gesellschaft nicht erreicht. Die Ausstellung präsentiert u.a. großformatige Werke aus der Serie der „Körperkonfigurationen“, aus den Jahren 1972 bis 1976, von VALIE EXPORT. Sie zählt zu den Pionierinnen feministischer Kunst.
Speziell für die Ausstellung „Bis ans Ende de Welt und über den Rand - mit Adolf Wölfli“ baut das Museum Villa Stuck eine Traummaschine. Die „Dreamachine“ wurde Ende der 50er Jahre gemeinsam von den Beatniks Brion Gysin und Ian Sommerville entwickelt. Die „Dreamachine“ gibt dem Publikum in der Ausstellung die Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten - selbst einen neuen Bewusstseinszustand zu erfahren.
Die ausgestellten Objekte umfassen die Bereiche Zeichnung, Fotografie, Malerei, Skulptur, Literatur, Film und Musik. Die mit Bleistift bzw. Farbstift auf Papier gearbeiteten, großformatigen Blätter von Adolf Wölfli sind sehr fragil und lichtempfindlich. Deshalb werden die Exponate bei reduzierter Lichtstärke gezeigt.
Künstler*innen der Ausstellung
Adolf Wölfli und Ariana-Maler, Hans (Jean) Arp, Georg Baselitz, Joseph Beuys, Ernst Bollin, Christian Boltanski, Bertolt Brecht, Udo Breger, Oskar Büttikofer, William S. Burroughs, Henning Christiansen, Nezaket Ekici, Erich Engel, VALIE EXPORT, Charles Gatewood, Fritz Getlinger, Brion Gysin, Birgit Jürgenssen, Anselm Kiefer, Johann Lang, Meret Matter, Constance Schwartzlin-Berberat, Ian Sommerville, Franz von Stuck, Johannes Stüttgen, Karl Valentin.
100 Sekunden mit Roland Wenninger
Biografie Adolf Wölfli
1864 Wölfli wird am 29. Februar als jüngstes von sieben Kindern in Bowil, Emmental (Kanton Bern), geboren. Der Vater ist Steinhauer.
Um 1870 Der Vater verlässt die Familie. Die Mutter verdient den Lebensunterhalt als Wäscherin.
1872 Wölfli und seine kranke Mutter verarmen und werden durch die Behörden von Bern in die Heimatgemeinde Schangnau zwangsumgesiedelt. Dort werden sie getrennt bei Bauern als Arbeitskräfte untergebracht.
1873 Tod der Mutter.
1879 Wölfli wächst unter entwürdigenden Arbeits- und Lebensbedingungen als Waise und „Verdingbub“ auf. In der Schweiz war damit die Unterbringung von Kindern bei fremden Familien gemeint, wo sie faktisch keinerlei Rechte besaßen und entsprechend oft misshandelt und missbraucht wurden. Meist wurden diese Kinder auf Bauernhöfen eingesetzt, wo sie als günstige Arbeitskräfte ausgenutzt wurden.
1880–1890 Wölfli arbeitet als Knecht, Handlanger, Lohn- und Wanderarbeiter an verschiedenen Orten in den Kantonen Bern und Neuenburg. Eine erste Liebesbeziehung scheitert aus sozialen Gründen. Er durchlebt weitere Liebesverhältnisse, die alle an seiner Armut scheitern.
1890 Wegen Kindesmissbrauchs wird Wölfli verhaftet und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.
1892–1895 Zunehmende soziale Isolierung und Vereinsamung.
1895 Wegen erneuten Kindesmissbrauchs wird Wölfli verhaftet. Zur Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit wird er in die psychiatrische Heilanstalt Waldau bei Bern eingeliefert. Die Diagnose lautet auf „Dementia paranoides“ (Schizophrenie). Wölfli wird in der Waldau interniert. Auf Veranlassung der Ärzte verfasst er 1895 seine erste Lebensgeschichte. Wölfli lebt bis zu seinem Tod 1930 in der Waldau.
1899 Wölfli beginnt in der Waldau mit dem Zeichnen. Aus dieser Zeit sind keine Arbeiten erhalten.
1904–1906 Erste erhaltene Zeichnungen (rund 50 großformatige Einblattzeichnungen), die alle mit Bleistift in Schwarz/Weiß gearbeitet sind.
1907 Der Arzt und Psychiater Walter Morgenthaler kommt an die Waldau, wo er mit Unterbrechungen bis Ende 1919 arbeitet. Erste farbige Zeichnungen von Wölfli.
1908–1912 Wölfli verfasst seine fiktive Autobiografie „Von der Wiege bis zum Graab“ (rund 3.000 Seiten), mehr als 700 Farbstiftzeichnungen illustrieren den Text. Mittels einer Reiseerzählung verwandelt Wölfli seine problematische Kindheit in eine glorreiche Geschichte mit wundersamen Abenteuern, Entdeckungen und überwundenen Gefahren.
1912–1916 Niederschrift der „Geographischen und allgebräischen Hefte“ (rund 3000 Seiten), Musikbilder und Zahlenbilder begleiten den Text. Wölfli schildert darin die Entstehung der zukünftigen „Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung“. Die Erzählung gipfelt in Wölflis Selbsternennung zu Skt. Adolf II. Ab 1916 signiert Wölfli mit Skt. Adolf II.
1916 Beginn der Produktion der Einblattzeichnungen, der sogenannten „Brotkunst“, die Wölfli an Ärzte, Angestellte, Besucher und erste Sammler verschenkt oder verkauft.
1917–1922 Niederschrift der „Hefte mit Liedern und Tänzen“ (rund 7000 Seiten). In dieser ausufernden Erzählung besingt und zelebriert er im Stil von Märschen, Polkas und Mazurkas seine „Skt Adolf-Riesen-Schöpfung“. Die musikalischen Kompositionen werden durch ausgeschnittene Abbildungen aus Zeitschriften ergänzt. Erste Auftragsarbeiten für die Waldau.
1921 Walter Morgenthaler veröffentlicht „Ein Geisteskranker als Künstler“, seine berühmte Monografie über Wölflis Leben und Werk. Die Studie wird u.a. von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé begeistert gelesen. Im Zusammenhang mit dieser Publikation sind Zeichnungen Wölflis in Buchhandlungen in Bern, Basel und Zürich erstmals öffentlich ausgestellt.
1924–1928 Niederschrift der „Allbumm-Hefte mit Tänzen und Märschen“ (rund 5000 Seiten), in denen Wölfli seine kommende Welt zelebriert. Die Erzählung selbst ist ersetzt durch eine Abfolge von Schlüsselwörtern, die bis zu tausendmal wiederholt werden, bevor sie durch andere abgelöst werden.
1928–1930 Niederschrift des „Trauer-Marsches“ (rund 8000 Seiten), ein nahezu abstraktes Requiem mit dicht beschriebenen Texten und Collagen. Die Erzählung ist ersetzt durch Laute und Rhythmen. Sie erhält die Form eines lautmalerischen Gedichts. Der Trauer-Marsch endet unvollendet.
1930 Am 6. November stirbt Adolf Wölfli an Magenkrebs in der Waldau.
Materialien zur Ausstellung
Bis ans Ende der Welt und über den Rand – Die Zeitung
Die Zeitung zur Ausstellung „Bis ans Ende der Welt und über den Rand – mit Adolf Wölfli“ ist erschienen und kostenfrei im Museum Villa Stuck erhältlich.
Mit künstlerischen Beiträgen von Tania Bruguera, Allen Ginsberg, Thomas Hirschhorn, Judith Holofernes, Parzival', Franz von Stuck und Karl Valentin, sowie einem Abdruck der 1976 veröffentlichten „Gegenüberstellung der biographischen Daten Wölflis mit seiner imaginären Lebensgeschichte und der Entstehungsgeschichte seines Werkes“ von Elka Spoerri. Einführung: Roland Wenninger. Herausgeber: Michael Buhrs und Roland Wenninger. Gestaltung: superbüro, Biel/Bienne.
Die Zeitung vereint Beiträge von Künster*innen, die gesellschaftliche, politische oder persönliche Grenzen überschreiten und führt somit den auf Dialog angelegten Ansatz der Ausstellung fort. Die Publikation stellt Fragen zu Gleichheit und Gleichberechtigung, widerspricht dem Begriff des „Outsider-Künstlers und transportiert die Kraft der Kunst, gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen.
Auf wunderbare Art und Weise kann die Zeitung anhand einer beigefügten Bastelanleitung in ein farbiges Adolf-Wölfli-Riesen-Plakat verwandelt werden: die „Riesen=Stadt Robespierre in China“ aus dem Jahr 1910.
Neuauflage des Buches „Ein Geisteskranker als Künstler“
1921 veröffentlichte der Arzt und Psychiater Walter Morgenthaler das Buch „Ein Geisteskranker als Künstler“ – eine Monografie und Würdigung von Adolf Wölfli. Das Buch stellt eine publizistische Pioniertat dar, denn erstmals wird in ihm ein Geisteskranker als Künstler bezeichnet und mit seinem vollen Namen genannt. Zum 100-jährigen Jahrestag seines Erscheinens veranlasste die Adolf Wölfli-Stiftung Bern eine Neuauflage. Erhältlich ab August im Museum Villa Stuck.