Kafka: 1924 -

Chiharu Shiota, During Sleep, 2002. Performance/Installation: with performers sleeping during the opening; beds, black wool Kunstmuseum Luzern, Lucerne, Switzerland. Photo by Sunhi Mang © VG Bild-Kunst, Bonn, 2023 and the artist

Anlässlich des 100. Todestags von Franz Kafka verweist das Museum VILLA STUCK in einer groß angelegten Ausstellung mit zeitgenössischen Künstler*innen auf die grenzenlose Aktualität des Schriftstellers.

„Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. Mit diesem Satz beendet Franz Kafka seinen Roman „Der Prozess“ und benennt ein zentrales Thema seines Schaffens: Die Scham. Sie und viele andere mit dem Werk Kafkas verbundene Themen haben den Schriftsteller tatsächlich überlebt und als „kafkaesk“ eine allgemeingültige und immerwährende Eigenständigkeit erlangt. Dort, wo Angst, Verzweiflung, unheimliche und klaustrophobische Verhältnisse, bürokratische Enge sowie Machtmissbrauch herrschen, wird oft eine gedankliche Brücke zu Kafka geschlagen. Daraus haben viele Künstler*innen, die im Zentrum der Ausstellung stehen, wichtige Impulse erhalten.

Zu sehen sind Positionen der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich explizit oder implizit auf Kafka beziehen. Figuren aus Erzählungen und Romanen von Franz Kafka führen die einzelnen Themen ein: Der Offizier aus der „Strafkolonie“, Gregor Samsa aus der „Verwandlung“, Karl Rossmann aus „Der Verschollene“, der Landvermesser K. aus dem „Schloss“, das namenlose Tier aus dem „Bau“ und natürlich Josef K. aus dem „Prozess“.

Die Präsentation ist thematisch und räumlich so konzipiert, dass die Werke einander ergänzen. Es eröffnen sich stets neue Perspektiven, die den Rundgang zu einem Erfahrungsraum machen. Die Ausstellung sprengt dabei die bildungsbürgerliche Kafka-Rezeption und richtet sich an ein breites Publikum. Comics führen niedrigschwellig in die Thematik ein und zeigen unterschiedliche Facetten der einzelnen Protagonisten aus Kafkas Schriften.

Werke der folgenden Künstler*innen sind zu sehen: Ida Applebroog, Louise Bourgeois, Berlinde De Bruyckere, Janet Cardiff and George Bures Miller, David Claerbout, Robert Crumb, Robert Gober, Rodney Graham, Andreas Gursky, Mona Hatoum, Roni Horn, Teresa Hubbard and Alexander Birchler, Tetsuya Ishida, Sebastian Jung, Franz Kafka, Konrad Klapheck, Alfred Kubin, Maria Lassnig, David Zane Mairowitz, Margot Pilz, Paula Rego, Germaine Richier, David Rych, Anri Sala, Heidrun Sandbichler, Thomas Schütte, Chiharu Shiota, Michael Sommer, Via Lewandowsky, Ignacio Uriarte, Maja Vukoje, Jeff Wall, Franz Wanner, Cathy Wilkes.

Zur Ausstellung Kafka: 1924

2024 jährt sich zum 100. Mal der Todestag Franz Kafkas (1883 – 1924). Die Ausstellung im Museum VILLA STUCK läutet das Kafka-Jahr ein. Im ersten einleitenden Bereich wird die Beziehung des Schriftstellers zur Kunst anhand von Büchern aus seiner Bibliothek sowie von Originalzeichnungen Kafkas und Alfred Kubins beleuchtet. Anschließend verweisen Künstler*innen des 20. und 21. Jahrhunderts mit ihren Werken auf die ungebrochene Aktualität des Schriftstellers.

Entlang einzelner Erzählungen und zentraler Themen Kafkas erstreckt sich die Ausstellungsdramaturgie nahezu über das gesamte Haus. Indem an unterschiedlichen Stellen des Rundgangs Motive wie das Labyrinth, die Nadeln, die Ameisen oder die Spinnen aufgegriffen und erweitert werden, entsteht eine eigene Narration im Raum, die stets neue Perspektiven eröffnet. Ergänzend gibt es in allen Bereichen Auszüge des Comic-Klassikers „Kafka“ (im englischen Original „Kafka for Beginners“, erschienen 1993) von Robert Crumb und David Zane Mairowitz, die ebenso unterhaltsam wie informativ in die jeweilige Thematik einführen.

BIOGRAFIE

Franz Kafka wird am 3. Juli 1883 in eine Kaufmannsfamilie als deutschsprachiger Jude in Prag geboren. Der Vater zeigt wenig Verständnis für die künstlerische Begabung seines Sohnes − ein Konflikt, der deutliche Spuren im Werk Kafkas hinterließ. Obwohl Kafka sich für Kunst und Philosophie interessiert, studiert er gemäß dem väterlichen Wunsch Jura. Sein Beruf bei einer Unfallversicherung ist ihm eine Last, die er dennoch gewissenhaft erledigt. 1902 lernt er seinen lebenslangen Freund und Unterstützer Max Brod kennen. Ab 1908 veröffentlicht Kafka erste kurze und längere Erzählungen in Zeitschriften und als Buchpublikationen. Auf intensive Schaffensphasen, in denen er Nächte durchschreibt, folgen längere unproduktive Abschnitte. Er beginnt drei Romane, die er nie fertigstellt. 1912 lernt er die Berlinerin Felice Bauer kennen, mit der er sich zweimal verlobt und die Verbindung wieder löst; weitere Beziehungen sind ebenfalls nicht von Dauer. 1917 erkrankt Kafka an Tuberkulose. Immer wieder muss er seine Arbeit unterbrechen, um sich an Ferienorten, in Sanatorien oder bei seiner jüngsten Schwester Ottla zu erholen. Er starb vor bald 100 Jahren, am 3. Juni 1924 bei Wien.

Eine Literaturikone

Am 3. Juni 1924 verstarb der Prager Schriftsteller nach schmerzvoller Krankheit im Alter von 40 Jahren. Kafkas zu Lebzeiten kurze literarische Laufbahn hatte 1908 mit der Veröffentlichung von „Betrachtung“ in der Münchner Zeitschrift „Hyperion“ begonnen. Bis 1924 publizierte er nur wenige Erzählbände und blieb bis zu seinem Tod einem größeren Publikum unbekannt. Kafkas posthum rasant steigender Ruhm geht auf Max Brod zurück, einst ein erfolgreicher Schriftsteller, Theater- und Musikkritiker, der den angehenden Literaten früh unterstützte. Der von Selbstzweifeln geplagte Kafka hatte Brod in seinem Testament gebeten, alle unveröffentlichten Werke zu vernichten. Stattdessen veröffentlichte Brod diese und verantwortete die erste Gesamtausgabe. Auch wenn er seine editorischen Befugnisse durch Texteingriffe massiv überschritt, wäre die Literaturgeschichte anders verlaufen, hätte er Kafkas Werk nicht publiziert.

Der Mythos Kafka ist posthum entstanden. Sein Werk hat nicht nur Generationen von Literat*innen weltweit geprägt, sondern auch deutliche Spuren in anderen künstlerischen Bereichen hinterlassen – und das bis heute. Kafka ist Teil des kollektiven Gedächtnisses, er hat Eingang in die Popkultur gefunden und ist sogar zum Begriff geworden, wenn die Rede vom Kafkaesken ist. Dort, wo Angst, Verzweiflung, unheimliche und klaustrophobische Verhältnisse, bürokratische Enge sowie Machtmissbrauch herrschen, wird oft eine gedankliche Brücke zu Kafka geschlagen. Sein Werk verweist auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die wiederum auch dafür verantwortlich ist, dass Kafka erst spät in Deutschland bekannt wurde. Nach 1933 konnten seine Werke nur vom jüdischen Schocken Verlag gedruckt werden, bis zu dessen endgültiger Schließung 1939. Erst in den 1950er-Jahren, lange nach Frankreich, England, den USA und Lateinamerika, setzte Kafkas Erfolg auch in Deutschland ein. Nur in Tschechien erfolgte die Würdigung des gebürtigen Pragers noch später: Politische Abwägungen verhinderten bis zum Ende der Sowjetunion Kafkas Aufnahme in die eigene Literaturgeschichte.

Kafka und die Kunst

Franz Kafka studierte ein Semester Kunstgeschichte in Prag. Seine Beschäftigung mit bildender Kunst reicht jedoch bis in die Gymnasialzeit zurück. Sein Schulfreund Oskar Pollak regte ihn 1898 zur Lektüre der Kunstzeitschrift „Der Kunstwart“ an, die sein Interesse an Kunstdrucken und Gipsabgüssen prägte. Sein Freund Paul Kisch, der ab 1902 in München studierte, schickte ihm Kataloge und Reproduktionen berühmter Plastiken aus der Antike und der Renaissance. Kafka besuchte ihn in München und ließ sich den Abguss einer „Tanzenden Mänade“ schicken. Der betreffende Verkaufskatalog ist in der Ausstellung aufgeschlagen. 

Kafkas Originalbibliothek ist fragmentarisch erhalten. Einige Bände mit besonderen Widmungen sind in der Ausstellung zu sehen: Tolstoi und Dostojewski als wichtige Vorbilder, Kafka gewidmete Exemplare von Max Brod und zwei Bücher, die Kafka seiner Schwester Ottla schenkte. Die Bibliothek spiegelt auch sein Kunstinteresse wider. Zudem sind Mappen mit Blättern von Max Horb und Alfred Kubin ausgestellt, beide aus dem Besitz von Max Brod.

Mit dem Grafiker, Buchillustrator und Schriftsteller Kubin fühlte Kafka sich eng verbunden. 1914 schrieb er: „Vielleicht gelingt es mir, doch noch einmal zu sagen, was mir diese Ihre Arbeit bedeutet.“ Immer wieder hielt Kafka visuelle Eindrücke, fantasievolle Figuren sowie Kritzeleien oder groteske Figuren bildnerisch fest. Kubin hat nach Kafkas Tod Illustrationen zu einigen seiner Schriften angefertigt. Seine sechs Federzeichnungen zu „Ein Landarzt“ von 1932 waren zunächst wegen der Verbannung von Kafkas Büchern aus Deutschland in Vergessenheit geraten. Erst 1997 sind Text und Bilder zum ersten Mal zusammen erschienen und nun hier in der Ausstellung zu sehen.

Odradek

Der Text „Ein Landarzt“ war bereits zu Lebzeiten Kafkas, im Jahr 1920, zusammen mit 13 anderen Kurzgeschichten publiziert worden. Darunter befand sich auch „Die Sorge des Hausvaters“. Es handelt sich um einen knappen Abriss über ein fiktives Wesen namens Odradek mit „unbestimmtem Wohnsitz“, irgendwo im Übergang zwischen der organischen und anorganischen Welt angesiedelt, dessen Anwesenheit im Treppenhaus dem Hausvater Sorge bereitet. Am Ende stellt er fest, dass Odradek nicht sterben könne, weil der Tod ein Ziel und dieses Wesen sinn- und daher ziellos sei.

Der Künstler Jeff Wall hat dieses Motiv in zwei Arbeiten aufgegriffen: in einer Nachbildung nach Kafkas Odradek-Beschreibung, die sich hier im Ausstellungsraum versteckt, und in einem Foto, das sich durch die genaue Angabe von Ort und Datum im Titel dokumentarisch ausgibt – Taboritskà 8, Prag, 18. Juli 1994. In ebendiesem Jahr begab sich Jeff Wall auf die Suche nach dem (wohl nicht sterblichen) geheimnisvollen Wesen und fand ein Treppenhaus, das zur Geschichte hätte passen können. Aber wo ist das Odradek? Der vermeintlichen Dokumentation widerspricht der fiktive Charakter der Erzählung. Abwesend und unbestimmt bleibt der rätselhafte Hausgeist in Wort und Bild. Wall reflektiert hier die Grenzen der Abbildbarkeit und verweist durch seine Hommage an Kafka auf die radikale Modernität des Schriftstellers.

Spitze Nadeln

Eine der seltenen öffentlichen Lesungen Kafkas fand 1916 in München statt. Nach großen Anstrengungen erhielt er von seiner Militärdienststelle eine Reisegenehmigung, um in der Galerie Goltz in der Brienner Straße eine nach eigenen Worten „schmutzige Geschichte“ vorzutragen. Die Veranstaltung wurde ihm zufolge ein „großartiger Mißerfolg“. Die Presse erklärte ihn zum „Lüstling des Entsetzens“. Drei Gäste sollen während der Lesung im Publikum in Ohnmacht gefallen sein. Kafka las aus der Erzählung „In der Strafkolonie“. Dort beschreibt er eine drastische Prozedur, die auf einer fiktiven autokratischen Insel als Strafe vollzogen wird: Ein Apparat schreibt mit spitzen Nadeln dem noch lebenden Verurteilten sein Vergehen auf den Rücken. Über zwölf Stunden hinweg graben sich die Buchstaben quälend langsam immer tiefer in die Haut ein. Kafka vermengt hier zeitgeschichtliche und biografische Elemente, zumal das ausgedehnte Verfahren unwillkürlich an sein eigenes Ringen mit dem Schreiben erinnert, das er stets als körperlich schmerzhaft empfunden hat.

Das Leiden als Weg zur Kunst ist ein wiederkehrender Topos, der in den Maschinen und Nadeln der ausgestellten Werke zeitgenössischer Künstler*innen ebenso anklingt. Die spitze Präzision der Nadel deutet auf eine zielgenaue Kunst hin, ebenso wie auf Kafkas scharfe Zunge mit seinem Faible für groteske und tragikomische Elemente. So soll er beim Lesen seiner Texte oft laut gelacht haben. Die hier präsentierten Tötungs-, Folter- und Suizidmaschinen drehen sich durchaus ironisch um Themen wie das Kunstschaffen oder die Technik als Selbstzweck. Die kinetische Installation „The Killing Machine“ wartet darauf, dass jemand den roten Knopf drückt, um den Tanz der zwei Robotern um ein imaginäres Opfer zu aktivieren. Licht und Ton sowie zahlreiche Requisiten setzen sich in Bewegung und bieten ein Spektakel von grausamer Schönheit. Dieser Totentanz verbindet ironisch den Zahnarztstuhl als Tatort mit einer Discokugel. Die akribische Aufführung trifft auf eine obsolete Technik und führt die Vergeblichkeit des Eingriffs vor.

Der Blick nach Innen

In seinem Tagebuch schreibt Kafka: „Die innere Welt läßt sich nur leben, nicht beschreiben.“ Er habe eine „ungeheuere Welt im Kopfe“, diese müsse er „befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie […] zurückhalten oder begraben.“ Das sei die Aufgabe des Schriftstellers, so Kafka. Das fragile Innere umzustülpen, ohne dabei etwas zu beschädigen, ist eine komplizierte Vivisektion. Kafkas präzise Sprache schafft Bilder der radikalen Vereinzelung, die, fern von jedem Dogmatismus, schwer auszuhalten sind.

Das Thema der Introspektion bis zur körperlichen und seelischen Schmerzgrenze zeichnet die Werke der beiden hier präsentierten Künstlerinnen aus. Mona Hatoum gibt mit „Deep Throat“ einen eigenartigen Einblick in das Innere des Körpers. Sie zeigt einen gedeckten Tisch für eine Person. Auf dem Teller, umrahmt von Messer und Gabel, erscheint jedoch das Videobild einer endoskopischen Reise durch den Mund in den Magen, wo das Essen einverleibt würde. Hatoum konterkariert die gesellschaftlichen Annehmlichkeiten des Dinierens, indem sie dessen physische Realität offenlegt. Ein schockierendes, aber auch humorvolles Spiel mit dem Wörtlichen, das die gesellschaftliche Tabuisierung des Körpers hinterfragt.

Die Zeichnungen aus der Serie „Mercy Hospital“ stammen aus einer Zeit, in der Ida Applebroog um ihre psychische Gesundheit rang. Viele der kühnen Strichzeichnungen von Menschen, Tieren und abstrakten Figuren in leuchtenden Farben sind mit Fragen und Aussagen versehen, die auf die Fragilität der Künstlerin hinweisen. Aus dieser Beschäftigung mit Körper und Psyche sind kleine poetische Blätter entstanden, die ein beachtliches narratives Potenzial entwickeln: ein schweigsames, aber nicht minder wirksames Bildertagebuch.

Inside Out

In „Die Verwandlung“, eine der bekanntesten Kurzgeschichten Kafkas, findet sich Gregor Samsa eines Morgens in seinem Bett als „ungeheueres Ungeziefer“ wieder. Sein anderer Zustand verändert die gesamte Familie. Es ist ein Gleichnis der Vereinsamung, Verformung und Zerstörung des Einzelnen durch gesellschaftlichen und individuellen Druck. Die Machtmechanismen innerhalb der Familie greifen im kleinen Rahmen stellvertretend für die sozialen Zwänge, die zu Unfreiheit, Erniedrigung und Missbrauch führen. Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind einem ständigen Wandel unterzogen; das Beziehungsgeflecht spiegelt sich in den Wohnräumen der Familie Samsa wider, in deren Anordnung und Ausrichtung nach innen oder außen.

Die Durchlässigkeit zwischen außen und innen, die Isolation und der familiäre Druck sind Themen der hier ausgestellten Werke. In Anri Salas Film „The Long Sorrow“ spielt der renommierte Free-Jazz-Saxofonist Jemeel Moondoc in schwindelerregender Höhe auf einem Fenstersims im 18. Stock. Es ist ein Plattenbau in einer Berliner Trabantenstadt aus den 1970er-Jahren, der „Langer Jammer“ (engl. „Long Sorrow“) genannt wird. Das improvisierte Stück lässt sich, unterstützt durch die sich langsam vorantastende Kameraführung, als Klage verstehen.
An der Seite des Projektionsraums entfaltet „Drain“ (dt. „Abfluss“) von Robert Gober eine Vielzahl an Assoziationen. Er ist ein selten beachtetes architektonisches Detail herkömmlicher Wohnhäuser. Dabei ist er als Torhüter zum Speicher von Essens- und Kosmetikresten sowie körperlichen Absonderungen Zeuge des intimen Familienlebens ebenso wie ein Fenster in die Unterwelt der Kanalisation.
Cathy Wilkes präsentiert eine ihrer bedrückenden Installationen, die aus Figuren und Objekten bestehen, die von Machtmechanismen innerhalb der Familie bis hin zu häuslicher Gewalt erzählen.
Teresa Hubbard und Alexander Birchler haben wiederum Gregor Samsas Zimmer in ihrem Studio nachgebaut und den Innenraum einer permanenten Verwandlung unterzogen. Daraus ist eine komplexe dreiteilige Arbeit entstanden, bei der jedes Teil eine andere Geschichte erzählt. Hier lässt Überwachung durch rätselhafte, dunkle Mächte, auch ein wiederkehrendes Kafka-Motiv, den Raum durchsichtig erscheinen.

Scham

„Wie ein Hund! sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Mit diesem Satz beendet Franz Kafka seinen Roman „Der Process“ und benennt ein zentrales Thema seines Schaffens: Scham stellt sich mit der Erkenntnis ein, anders zu sein, den Erwartungen eines Systems nicht zu entsprechen, einer Gruppe nicht anzugehören. Scham ist ohnmächtig und steht für die Ausgesetztheit einer Existenz, die sich nicht einmal ihrer selbst sicher ist. Denn die schamhafte Identität ist eine unmögliche – so sollte sie wie im „Process“ den Tod überleben. Scham ist die Erkenntnis, dass die Bildung einer stabilen Identität und von emotionalen Beziehungen zum Scheitern verurteilt ist. Diese Grunderfahrung prägt die Figuren in Kafkas Schriften – von Joseph K. über Karl Roßmann bis Gregor Samsa.

Für die Künstlerin Paula Rego ist Scham „eines der interessantesten Erlebnisse, das wir haben“. Sie entstammt der Erfahrung der Angst, wenn sich das Bewusstsein der Differenz, des Mangels und des Scheiterns einstellt. Das weiß die Künstlerin für ihre Horrormärchen produktiv zu nutzen. Regos Bilderwelten drehen sich um Beziehungsgewalt und familiäre Zwänge, um Vergewaltigungen, Abtreibung und Tod. Manche ihrer weiblichen Figuren erleiden Verstümmelungen, andere scheinen mit Superkräften ausgestattet zu sein. Groteske Elemente führen einen humorvollen Bruch in das Elend ein.
Das Motiv der Verwandlung ist mit der Erfahrung von Scham verbunden. Es verweist auf ein offenes, niemals abgeschlossenes Ende. Germaine Richier ist für ihre hybriden Mischwesen bekannt: Ameisen, Heuschrecken, Spinnen mit menschlichen Gliedmaßen, Gesichtern und Brüsten. Die Insektenfrauen führen Identität als fragiles Konstrukt vor.
Dies ist auch ein Thema bei Louise Bourgeois. In der Ausstellung ist das Künstlerinbuch „Ode an meine Mutter“ zu sehen, das Text- und Bildvariationen rund um ihr Lebensmotiv präsentiert: Die Spinne dient Bourgeois als Projektionsfläche für ihre Mutter und als Chiffre für Spannungen innerhalb familiärer Beziehungen. Doch die Spinne hat auch eine beschützende Funktion und verweist durch ihre Fähigkeit zu weben auf den Beruf der Mutter, einer Weberin.

Im Labyrinth

In der unvollendeten, kurz nach Kafkas Tod veröffentlichten Erzählung „Der Bau“ unternimmt ein nicht näher bezeichnetes Tier große Anstrengungen, um seinen Erdbau vor Eindringlingen zu schützen. Wie besessen baut es sein Versteck dauernd um. Je ausgeprägter der Verfolgungswahn wird, desto labyrinthischer werden die Gänge. Letztlich laufen all die Strapazen ins Leere. Vergebliche Bemühungen durchziehen auch das Romanfragment „Das Schloss“. Der Landvermesser K. versucht, in einem von einem gewaltigen Schloss regierten Dorf Fuß zu fassen. Als lediglich geduldeter Fremder muss er sich einer geheimnisvollen Machthierarchie unterwerfen. Die Festung ist ein übermächtiger bürokratischer Apparat, undurchschaubar, willkürlich und autoritär. Jeder Versuch, sich der Behörde und dem ausführenden Beamtentum zu nähern, scheitert. Im Laufe des Textes wird auf beklemmende Art und Weise alles scheinbar Gewisse infrage gestellt. Die sich daraus ergebenden absurden Situationen sind kafkaeske Meisterstücke der Komik.
In diesem Raum ist Roni Horns Ameisenfarm ausgestellt. Die kleinen Insekten bauen in der Erde fleißig ihre labyrinthartigen Gänge. Jedes Tier hat eine Funktion, es gibt einen unterirdischen Masterplan. Weniger zielführend sind dagegen die vielen Treppen in Thomas Schüttes Modell eines Kellers, die auf merkwürdige Weise in unlogische Richtungen führen.
Aus den Fugen geraten ist auch der Kabelsalat von Konrad Klaphecks Telefon, das unter dem Titel „Die Stimme des Gewissens“ von wirren Kommunikatioswegen und Verstrickungen der Bürokratie erzählt.

Das Amt

Der promovierte Jurist Franz Kafka arbeitete von 1908 bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung 1922 bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUVA) für das Königreich Böhmen in Prag, der größten der sieben österreichischen Einrichtungen dieser Art. Diese Beschäftigung betrachtete er stets als Mittel zum Zweck, dennoch gewährte sie ihm Einblick in die literarisch gut interpretierbare Welt der Bürokratie: Es gibt wohl kaum einen kafkaeskeren Bereich als das Amt. Neben dem Bild des Labyrinths tritt Bürokratie bei Kafka als Willkür der Macht auf; dies findet sich in kleinen Schriften und Tagebüchern, passagenweise in vielen Werken wie „Der Verschollene“, vor allem aber im „Schloss“ und im „Process“. In letzterem wird Josef K. eines Morgens verhaftet, „ohne dass er etwas Böses getan hätte“. Daher müsste ihn jemand „verleumdet haben“. Es beginnt ein vergebliches Ringen um Erklärungen, Josef K. muss fliehen, blitzt bei den Gerichtsbeamten ab und findet merkwürdige Anwälte, die nur ihre Rolle innerhalb des Systems wahrnehmen und für Josef K. letztlich unerreichbar bleiben.

Das Individuum wird passend gemacht. Der japanische Künstler Tetsuya Ishida verweist auf menschliche Körper unter der Straßeninfrastruktur, bei Maria Lassnig werden die „Erniedrigten und Beleidigten“ gemaßregelt, während sich die Behörden in Andreas Gurskys Fotoarbeiten in Stellung bringen. Ignacio Uriarte hat dem Versicherungsbeamten Kafka ein Tagebuch im Excel-Format geschenkt: „All the days of Franz Kafka“ heißt die Tabelle, die das exakte Datum aller Tage in Kafkas Leben benennt.

Die Arbeiten von Margot Pilz sind im vorigen Raum ausgestellt. Ihre Karriere begann sie als Werbefotografin. Sie engagierte sich für die Frauenbewegung und wurde 1978 von der Polizei verhaftet. Durch dieses sowohl als Trauma als auch als künstlerische Initialzündung empfundene Erlebnis fand sie zur konzeptuellen Kunst. Das entstandene Werk ist eine Fotoserie aus Selbstporträts in verschiedenen Körperhaltungen, von ihr „Sekundenskulpturen“ genannt, die sie zusammen mit den Polizeiakten ihrer Verhaftung ausstellt.

Im Verhör

Die Verhörszenen sind bei Kafka Ausdruck einer klaren Machthierarchie zwischen der Behörde und dem Angeklagten. Da die Feststellung der Schuld den Befragungen stets vorausgeht, dienen sie nicht der Aufklärung, sondern der Erniedrigung und Freiheitsberaubung. Eine Verteidigung ist von Anfang an unmöglich. In letzter Konsequenz wird das Verhör durch Folter ersetzt, wie in der Kurzgeschichte „In der Strafkolonie“, deren Ausgangspunkt lautet: „Die Schuld ist immer zweifellos.“

Oft markieren die Verhöre schicksalhafte Wendungen der Geschichte, ob beim „Process“ oder beim Anti-Bildungsroman „Der Verschollene“. Darin erzählt Kafka, wie der von seinen Eltern verstoßene junge Karl Roßmann in Amerika sein Glück (ver-)sucht. Obwohl die Textstruktur an den klassischen Bildungsroman erinnert, ist Roßmanns Lebensweg eine Aneinanderreihung von Niederlagen, deren oft tragikomischer Charakter eher an einen Schelmenroman erinnert. Am Ende des Romanfragments steht eine Art Befragung mit Bewerbungscharakter, die Roßmann beruflichen Zugang zum Naturtheater von Oklahoma verschaffen soll – vielleicht endlich ein Ort der Zugehörigkeit.

In diesem und im nächsten Raum sind zwei filmische Arbeiten von David Rych und Franz Wanner ausgestellt, die sich mit Machtmissbrauch und Manipulation durch die Behörden beim Verhör von Geflüchteten und Asylsuchenden beschäftigen. Es wird dokumentiert, wie Institutionen diskriminierende Annahmen des „Fremden“ bei ihren Befragungen reproduzieren und diese konstitutiv für das nationalstaatliche Narrativ nutzen.
David Rych hat 2016 sieben VR-Filme gedreht, die verschiedene Perspektiven der Befragungen und deren Machtmechanismen aufzeigen. Das Projekt ist im Rahmen eines Improvisationstheaters mit Geflüchteten entstanden. Inszeniert werden Erstbefragungen durch die Behörden, wobei die Geflüchteten nicht nur ihre eigene Position einnehmen, sondern auch diejenige der Interviewenden.
Franz Wanner hat sich investigativ den Strukturen des Bundesnachrichtendienstes (BND) beschäftigt. 2018 hat er mittels eines operativen Lehrstücks an den Münchner Kammerspielen die Praktiken der Hauptstelle für Befragungswesen zum Thema gemacht. Das Gebäude, in dem sich die realen Befragungen durch den BND abgespielt haben, befindet sich hinter der Villa Stuck. Sie sehen es durch das Fenster.

Credits

KAFKA: 1924

Direktor: Michael Buhrs
Kuratorin: Dr. Helena Pereña
Kuratorische Vermittlung: Anne Marr
Projektkoordination: Sara Kühner, Dr. Sabine Schmid, Anna Viehoff
Projektmitarbeit: Martha Baer, Ina Maria Katzer, Hannah Rathschlag, Eléa Sicre, Rosa Tempel, Ecem Yalcin
Ausstellungstechnik: Christian Reinhardt, Patrick Matthews, James Khan
Restauratorinnen: Bettina Bünte, Susanne Eid, Johanna Stegmüller, Johanna Stengel
Aufbauteam: Anton Bošnjak, Mark Chandler, Michael Grudziecki, Tommy Jackson, Cris Koch, Johannes Koch, René Landspersky, Kerol Montagna, Ruth Münzner, Till Rentrop, Andrea Snigula, Nikolaus Steglich
Ausstellungsarchitektur: ansa studios, Velichka Dyulgerova
Ausstellungsgrafik: Marion Blomeyer
Ausstellungstexte: Helena Pereña, Anne Marr
Übersetzung: Bram Opstelten
Lektorat: Tina Rausch (D), Sarah Trenker (E)
Medientechnik: Eidotech, pr.ojekte
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Birgit Harlander, Anja Schneider
Kinder- und Jugendprogramm: Johanna Berüter
Verwaltung: Gudrun Gaschler, Ruzica Bagaric, Isabella Schleich

KÜNSTLER*INNEN

Ida Applebroog, Louise Bourgeois, Berlinde De Bruyckere, Janet Cardiff & George Bures Miller, David Claerbout, Robert Crumb, Robert Gober, Rodney Graham, Andreas Gursky, Mona Hatoum, Roni Horn, Teresa Hubbard / Alexander Birchler, Tetsuya Ishida, Sebastian Jung, Franz Kafka, Konrad Klapheck, Alfred Kubin, Maria Lassnig, Via Lewandowsky, David Zane, Mairowitz, Margot Pilz, Paula Rego, Germaine Richier, David Rych, Anri Sala, Heidrun Sandbichler, Thomas Schütte, Chiharu Shiota, Michael Sommer, Ignacio Uriarte, Maja Vukoje, Jeff Wall, Franz Wanner, Cathy Wilkes

LEIHGEBER*INNEN

ALBERTINA, Andreas Gursky, Bayerische Staatsbibliothek München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Pinakothek der Moderne, Bergische Universität Universitätsbibliothek Wuppertal, Chiharu Shiota, DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, David Rych, Franz Wanner, Jahn und Jahn, München / Lisboa, Hauser & Wirth, Heidrun Sandbichler, Kistefos Museum / Courtesy of Christen Sveaas’ Art Foundation, Münchner Stadtbibliothek, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST, Belvedere, Wien, Philipp von Rosen Galerie, Privatsammlung Andreas Kilcher, Sammlung Annette Vogel, Sammlung Goetz, Sammlung Klapheck, Sebastian Jung, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Studio Anri Sala, Studio David Claerbout, Thomas Schütte, Udo und Annette Brandhorst Sammlung, Universitätsbibliothek
der LMU München, Via Lewandowsky sowie zahlreiche private Leihgeber*innen

Kafka: 1924 - die Publikation

Das Buch zur Ausstellung ‚Kafka: 1924‘ lädt zu einer Reise durch ein kafkaeskes Universum ein. Eigens entstandene Prosastücke begleiten ausgewählte Werke zeitgenössischer Kunst, die auf Kafkas Literatur, seine Beziehung zu München und seine Leidenschaft für Kunst, treffen. Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung ist Kafkas Erzählung ‚In der Strafkolonie‘. Darin finden sich zentrale Themen wie Scham, Schuld und Ohnmacht ebenso wie Kafkas charakteristischer makabrer Humor. Aus dieser Erzählung hat der Schriftsteller in München bei einer von seinen insgesamt nur zwei öffentlichen Auftritten gelesen. Daraufhin sollen Gäste in Ohnmacht gefallen und hinausgetragen worden sein.

Die Buchgestaltung nimmt die typografische Form der Erstveröffentlichung von Kafkas ‚Ein Landarzt‘ zum Ausgangspunkt – das war auch ursprünglich die geplante Ausstattung von ‚In der Strafkolonie‘. Als Tribut zum 100. Todestag erscheint die Erzählung in der von Kafka so geschätzten typografischen Form.

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The book accompanying the exhibition 'Kafka: 1924' is an invitation to a journey through a Kafkaesque universe. Specially created prose pieces accompany selected works of contemporary art that encounter Kafka's literature, his relationship to Munich and his passion for art. The focal point of the exhibition is Kafka's story 'In the Penal Colony'. It contains central themes such as shame, guilt and powerlessness as well as Kafka's characteristic macabre humor. The writer read from this story in Munich at one of his only two public appearances. As a result, guests are said to have fainted and been carried out.

The book design takes the typographical form of the first publication of Kafka's 'A Country Doctor' as the starting point - this was also originally the planned design for 'In the Penal Colony'. As a tribute to the 100th anniversary of his death, the story appears in the typographical form that Kafka so appreciated.

KAFKA: 1924
Hrsg von Helena Pereña, Anne Marr, Michael Buhrs
Texte von Sigrid Behrens, Michael Buhrs, Anna Eble, Heike Geißler, Katja Huber, Anna Job, Paulus Kaufmann, Andreas Kilcher, Hans-Gerd Koch, Anne Marr, August Modersohn, Helena Pereña, Maxi Pongratz, Tina Rausch, Stefan Schneider, Dana von Suffrin, Thomas Voglgsang und Nora Zapf.
672 Seiten, 225 Abbildungen, Preis im Museum 35 €, ISBN: 978-3-7533-0604-9.