Nevin AladağSound of Spaces -

Installationsansicht "Nevin Aladağ. Sound of Spaces", Museum VILLA STUCK, 2021/2022, Foto: Jann Averwerser

Mit einer Auswahl an Installationen, Skulpturen, Textilien, Videoarbeiten und Performances präsentiert das Museum VILLA STUCK die bisher umfassendste Einzelausstellung von Nevin Aladağ. Die international renommierte Künstlerin beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren intensiv mit Musik und Klang als Mittel der bildenden Kunst. Spielerisch und mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie kombiniert sie Bilder und Klänge, um immer wieder überraschende Wahlverwandtschaften offenzulegen, die eine Vielfalt an Assoziationen in Gang setzen. In der Welt von Aladağ gerät das Alltägliche in Bewegung, Objekte fangen an, zu musizieren, sie verwandeln sich und lassen der Fantasie ihren Lauf. Dabei lotet Aladağ die Grenzen der Kakofonie aus; sie untersucht, wann ein stimmiges Gesamtbild entsteht, ohne die Individualität der einzelnen Klangspuren aufzugeben. Dafür experimentiert sie mit den Klangeigenschaften verschiedener Objekte und deren simultaner Wirkung in verschiedensten Medien. Das Ergebnis ist ein vielfältiges, multidisziplinäres Werk, das zum ersten Mal in dieser Breite zu sehen ist.

Die Ausstellung präsentiert jüngere Arbeiten, die zum Teil für das Projekt entstanden sind, im Dialog mit älteren Werken. Die Zusammenstellung verdeutlicht wiederkehrende Motive und Strategien, die sich – ganz nach dem Prinzip der einzelnen Arbeiten – gegenseitig kommentieren, um Neues hervorzubringen. Dadurch entsteht im gesamten Haus, von den Historischen Räumen über den privaten Wohnbereich bis in das Neue Atelier eine scharfsinnige und humorvolle „Partitur“.

Die Gestalterin Marion Blomeyer hat ein Begleitheft entworfen, das die Idee der Partitur durch die Räume der Ausstellung aufgreift und sich sowohl als anregende Orientierungshilfe als auch Choreografie des Besuchs versteht.

GARTEN UND FASSADE

An der Museumsfassade werden zwei Arbeiten gezeigt, in denen Nevin Aladağ mit der Durchlässigkeit des öffentlichen und des privaten Raumes spielt; ein Thema, das im ehemaligen Wohnhaus Franz von Stucks eine besondere Wirkung entfaltet. Die Videoprojektion „Voyeur“ (1996), die nur nach Anbruch der Dunkelheit sichtbar wird, zeigt die Schattenumrisse eines Paares in einem Zimmer. Neugierig werden Spekulationen darüber angestellt, worüber sich die beiden unterhalten mögen. Der Assoziationsreichtum reicht vom „Fenster zum Hof“ bis zu eigenen Erfahrungen während der Lockdowns. Auch der „Läufer“ (2001), der vom Fenster des Neuen Ateliers bis zur Straße herabhängt, lädt zum Nachdenken über das Verhältnis zwischen Innen und Außen ein.
Im Garten ist „Color Floating“ (2020) ausgestellt, eine lichtdurchflutete, mit Strümpfen verschiedener Farben und Stoffen überzogene Struktur, die im wörtlichen Sinne „vielschichtig“ ist.

MUSIC ROOMS

Der Rundgang im Innenbereich beginnt in den Räumen Franz von Stucks. Leise fügen sich dort einzelne Möbel in das historische Ambiente ein, die erst auf den zweiten Blick als die hybride Mischwesen aus Aladağs „Music Rooms“ (2014–2017) erkannt werden. Die Künstlerin hat Möbelstücke und Alltagsgegenstände, die sie auf Flohmärkten gezielt für ihren Zweck sucht, zu Instrumenten umbauen lassen. Bei der Auswahl ist ihr wichtig, dass es sich um Objekte handelt, die in jedem Wohnraum stehen könnten, dennoch sollten Form und Material akustischen Anforderungen ebenso genügen. Für die VILLA STUCK hat Aladağ eine goldene „Frame Harp“ entwickelt, die Stucks Gemälden mit musikalischem Sujet gegenübersteht. In der Mitte der Raumabfolge steht „Music Room Brussels“, ein komplettes Ensemble, das in monatlichen Performances durch Musiker*innen aktiviert wird.

VOICE OVER

Aladağ findet ihr Material im Alltag, oft im städtischen Raum. In der Videoarbeit „Voice Over“, die in Stucks Altem Atelier gezeigt wird, kombiniert sie den Gesang von zwei Jungen mit Instrumenten, die von Wind und Regen gespielt werden. Die Anfangssequenz mit einer Mundharmonika, die sie aus dem Autofenster im Fahrtwind zum Erklingen bringt, ist exemplarisch für das enge Zusammenspiel zwischen optischen und akustischen Reizen. Indem das Instrument die Form der umgebenden Hochhäuser in ein Querformat übersetzt, verschwimmt der Übergang zwischen beiden Ebenen. Damit entlockt die Künstlerin nicht nur dem Instrument, sondern auch dem Bild einen Klang und legt die Poesie des Stadtraums offen.

PATTERNS

Im ersten Teil des 1. Obergeschoss ist eine Reihe von Arbeiten ausgestellt, in denen Aladağ mit Mustern und Ornamenten unterschiedlicher Herkunft experimentiert, die wiederum einen Dialog mit der Ornamentik der VILLA STUCK herstellen. Diese nichtakustischen Werke zeichnen sich durch eine offene Struktur aus, die – analog zu ihren polyfonischen Arbeiten – die Eigenständigkeit der einzelnen Fragmente bestehen lässt. Die Künstlerin beschreibt, dass sie etwas zusammenbringt, „das angeblich nicht zusammenpasst, weil es aus unterschiedlichen historischen, religiösen oder politischen Zusammenhängen kommt“.

Die aus Kunsthaaren bestehenden Vorhänge der Serie „Rehearsals“ (2012) entziehen sich auf dem ersten Blick einer festen Zuordnung, indem die Künstlerin eine für sie typische Assoziationskette eröffnet: Haare, Frisur, Vorhänge, Bühne… Der Schwere der Vorhänge als Repräsentationsobjekte setzt sie die Leichtigkeit der bunten Frisuren entgegen.

RAISE THE ROOF / STILETTOS: DER KÖRPER IM MITTELPUNKT

Lass die Wände wackeln! So lässt sich der Titel der Performance „Raise The Roof“ übersetzen, die 2017 auf der Biennale in Venedig aufgeführt wurde und Ausgangspunkt für die ausgestellte Videoarbeit war. Aladağ hat diese Aufforderung zum enthemmten Tanz zum ersten Mal 2007 in Berlin konzipiert und die Tänzerinnen auf einem Dach direkt an der ehemaligen Ost-West-Grenze auftreten lassen. Dem kollektiven Ereignis setzt sie eine private Erfahrung gegenüber, die dem Publikum verwehrt bleibt, denn die Songs sind nur für die Tänzerinnen hörbar. Die spontanen Bewegungen zeigen, dass jede für sich allein ist. Von außen erschließen sich nur die Titel und die Länge der Stücke, die auf die T-Shirts gedruckt sind. Die entstandene Distanz lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Klang: das Klackern der Schuhe auf Kupferplatten, das sich verdichtet, indem weitere Tänzerinnen hinzukommen.

Die Videoarbeiten „City Language III“ (2009) und „Top View“ (2012) drehen sich um die Fähigkeit des Körpers, Klänge zu erzeugen, indem unterschiedliche Menschen mit den Händen oder mit den Füßen kurze Stücke vorführen. Die Ergebnisse nutzt die Künstlerin für ein ungewöhnliches Porträt der jeweiligen Städte, das aus Ton- und Bildsequenzen besteht. Solche Überlegungen fließen in Aladağs neueste Arbeit mit ein: „Body Instruments“ (2021), ein Kostüm mit Schellen, Trommeln und Akkordeons, das im Rahmen einer Performance aktiviert wird.

In der Serie der „Stilettos“, die teilweise aus den Performances hervorgegangen ist, sammelt Aladağ seit 2005 Tanzspuren ein und erklärt sie zum Bild. Sie verwendet die hohen Absätze als „Prägestempel“, um Songs zeichnerisch zu übertragen. Die Spuren lesen sich aber auch wie eine nachträglich entstandene choreografische Anweisung, eine Partitur a posteriori, die sowohl auf das Geschehene hinweist als auch neu interpretiert werden könnte.
Die Spuren als Speicher der Vergangenheit, als eine notwendigerweise verblasste Möglichkeit des Gedächtnisses, erhalten in „Tusch“ eine historische Dimension. Die Künstlerin hat die kurzen Musikstücke mit Kanonenkugeln auf Partiturlinien notiert. Die Kugelsegmente sind Eisenabgüsse von Originalen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Wucht des Kanonenschießens trifft jedoch auf die Eleganz der Notenlinien und offenbart die typische ambivalente Struktur, die dem Werk von Nevin Aladağ innewohnt.

RESONATORS / SOCIAL FABRIC: SOUND OF SPACES

Im großen Kuppelsaal des neuen Ateliers sind die Serien „Social Fabric“ (2017–2021) und „Resonators“ (2018/19) ausgestellt. Aladağ entwirft Klangskulpturen, die meist einer bestimmten Instrumentenfamilie zuzuordnen sind oder – wie beim „Großen Resonator“ – mehrere miteinander kombinieren. Als Ausgangspunkt dienen der Künstlerin Instrumente unterschiedlicher Herkunft, die sie zu geometrischen und fantasievollen Formen kombiniert. Aladağ arbeitet mit Instrumentenbauern zusammen, um ihre Suche nach neuen Klängen technisch zu begleiten. Die Ergebnisse erinnern teilweise formal an die Klassische Moderne, teilweise regt sie zu konzeptuellen Assoziationen an. So überträgt sie in „Resonator Wind“ die Idee einer Luftblase in eine sphärische Form, um den Blasinstrumenten, die darin vereint sind, ein gemeinsames Gehäuse zu geben.

In dem Saal sind auch neue Klangskulpturen ausgestellt, die architektonisch verankert sind, und eine weitere Entwicklung von „Resonating Space Mannheim“ (2020–2021) darstellen. So zieren Trommelelemente die Wände, während Glocken, Harfe und Gitarre an den Ecken angebracht sind. Der Klang im Raum steht hier im Fokus der künstlerischen Aufmerksamkeit. Die Teppichcollagen von „Social Fabric“ knüpfen an Aladağs Experimente mit Mustern, wirken sich aber in diesem Zusammenhang auch auf die akustischen Qualitäten des Raums aus.
Alle Klangskulpturen werden in regelmäßigen Performances aktiviert, Termine hierzu finden Sie im Kalender.

Ausstellungsansichten

Installationsansicht "Nevin Aladağ. Sound of Spaces", Museum VILLA STUCK, 2021/2022 Foto: Jann Averwerser

Installationsansicht "Nevin Aladağ. Sound of Spaces", Museum VILLA STUCK, 2021/2022 Foto: Jann Averwerser

Installationsansicht "Nevin Aladağ. Sound of Spaces", Museum VILLA STUCK, 2021/2022 Foto: Jann Averwerser

Installationsansicht "Nevin Aladağ. Sound of Spaces", Museum VILLA STUCK, 2021/2022 Foto: Jann Averwerser

Installationsansicht "Nevin Aladağ. Sound of Spaces", Museum VILLA STUCK, 2021/2022 Foto: Jann Averwerser

Zur Künstlerin

Nevin Aladağ studierte bis 2000 Bildhauerei bei Olaf Metzel an der Akademie der Bildenden Künste in München. Die vielfach ausgezeichnete Künstlerin lebt heute in Berlin. Seit 2020 ist sie Professorin für interdisziplinäres künstlerisches Arbeiten an der Hochschule für Bildende Künste Dresden.

Ihre Arbeiten sind in internationalen Sammlungen vertreten wie z. B. Centre Pompidou (Paris), Collection Sheikha Hoor Al-Qasimi (Schardscha, Vereinigte Arabische Emirate), Collection Thyssen-Bornemisza Art Contemporary (Wien), Collection Vehbi Koç Foundation (Istanbul) sowie Es Baluard Museu d'Art Contemporani de Palma (Palma de Mallorca) und in zahlreichen deutschen Institutionen wie der Hamburger Kunsthalle, dem Kunstmuseum Stuttgart, der Sammlung der Neuen Nationalgalerie oder der Kunsthalle Mannheim.

Ihre Werke werden regelmäßig in Ausstellungen und Biennalen weltweit gezeigt. Mit ihren Auftritten im San Francisco Museum of Art, La Biennale di Venezia, documenta 14 oder Kemper Museum of Contemporary Art, Kansas City hat sie in den letzten Jahren Aufsehen erregt.

100 Sekunden mit Nevin Aladağ und Helena Pereña

Programm

Nevin Aladağ entwickelt Musikskulpturen aus bestehenden, veränderten oder neu  gestalteten Resonanzkörpern. Sie verwandelt Möbelstücke in Musikinstrumente für ihre  „Music Rooms“, kombiniert unterschiedliche Exponenten einer Instrumentenfamilie in den „Resonators“ oder entwirft architektonisch definierte Rauminstrumente in „Resonating Space“. Diese Skulpturen werden von Musiker*innen des Neuen Kollektivs München (NKM) im Rahmen von Performances aktiviert. Die Aufführungen gehen über verschiedene Stationen und können vom Publikum während des Ausstellungsrundgangs besichtigt werden.

NKM – Neues Kollektiv München ist eine Formation für zeitgenössische Musik. Die enge Verzahnung von kreativen Interpret*innen und musizierenden Komponist*innen prägt die künstlerische Arbeit des NKM. Die Musiker*innen entlocken den Skulpturen einen eigenen Klang, um eine experimentier- und improvisationsfreudige Aufführung zu gestalten.

Termine:

Von den „Music Rooms“ zu den „Resonators“ und „Resonating Space“
Musikperformance mit Aktivierung der „Body Instruments“
Neues Kollektiv München (NKM)
9.3.2022, 19–21 Uhr

Publikation

Begleitend zur Ausstellung erscheint bei Hatje Cantz ein umfangreiches Buch mit 200 ganzseitigen Abbildungen in Farbe, das von der Buchdesignerin Alexandra Rusitschka gestaltet wurde. Essays von wichtigen Wegbegleiter*innen und Kunstwissenschaftler*innen wie Rachel Jans und Adam Szymczyk und ein eigens für das Buch konzipierter Beitrag der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Ulrike Draesner beleuchten die Arbeit der Künstlerin aus unterschiedlichen Perspektiven.

Hrsg. Michael Buhrs, Helena Pereña, Texte von Ulrike Draesner, Rachel Jans, Sara Kühner, Helena Pereña, Adam Szymczyk, Deutsch/Englisch, 2021. 288 Seiten, 200 Abb., Hardcover, Leinen, 21,50 x 27,00 cm. ISBN 978-3-7757-5143-8. 35 €

Die spezielle Prägung, die Aladağ für eine limitierte Sonderedition des Umschlags entwickelt hat, verleiht der Publikation eine besondere künstlerische Note. Die Edition ist zum Preis von 180 € ebenfalls im Museum erhältlich.

 

Vergangene Veranstaltungen